Markby hatte sich in einem Lehnsessel niedergelassen und lächelte sie an, während er seine langen Beine ausstreckte. Seine Schuhe waren sauber poliert, jedoch alt, und die Nähte der ledernen Oberseiten drohten zu reißen. Nichtsdestotrotz wusste Kate sehr wohl, dass man Schuhe von dieser Qualität nicht in irgendeinem Schuhladen an der Hauptstraße kaufen konnte.
»Keine Sorge, danke, ich brauche nichts. Lassen Sie sich durch mich nicht von Ihrer Mahlzeit abhalten.« Er nickte in Richtung des Sandwichs und des erkaltenden Kaffees.
»In Ordnung. Danke.« Sie setzte sich und biss nervös in ihr Sandwich.
»Erhält jeder Verdächtige diesen Service?«, fragte sie undeutlich.
»Ich meine, hohe Polizeibeamte, die Pakete ausliefern?«
»Nein, aber es lag auf dem Weg, und ich dachte, ich bringe es vorbei.«
»Dann haben Sie also nichts in meinen Sachen gefunden?«, fragte sie trocken. Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Oh, wir haben den gelben Schal noch zurückbehalten. Den bekommen Sie zu einem späteren Zeitpunkt.« Kate trank langsam von ihrem Kaffee, während sie überlegte. Sie hatte das Sandwich nach dem ersten Bissen liegen lassen. Essen hatte seinen Reiz momentan eingebüßt. Nun stellte sie die leere Tasse ab.
»Keiner von den beiden ist vor heute Abend zurück. Carla ist nach London gefahren, und Luke ist in Cambridge.«
»Ich bin vorbeigekommen, weil ich mit Ihnen reden möchte. Ich weiß, dass Sie keine förmlichen Befragungen mögen, und ich dachte, vielleicht könnten wir uns inoffiziell unterhalten.« Er sah immer noch irritierend gelassen aus, und Kate, die sehr wohl wusste, dass ein solches Verhalten ihrerseits andere beunruhigte, stellte verärgert fest, dass nun sie selbst mit Nervosität reagierte. Sie entschied sich zum Angriff, ihre übliche Verhaltensweise unter ähnlichen Umständen.
»Ich dachte mir schon, dass Sie nicht nur meine Kleider bringen würden«, sagte sie.
»Was wollen Sie sonst noch von mir?«
»Ich habe mich gefragt, ob Sie inzwischen wieder einmal mit Ihrem Anwalt Verbindung aufgenommen haben.« Falls er die Aggression in ihrer Stimme bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken.
»Ja, das habe ich, aber ich wüsste nicht, was Sie das anginge!«
»Ich habe mir Ihre Geschichte durch den Kopf gehen lassen«, meinte Markby.
»Es ist nur eine Kleinigkeit, aber mir kam ein Gedanke, und ich dachte, ich sollte es besser überprüfen.« Er bemerkte das Misstrauen in ihrem Gesicht.
»Es hat etwas mit dieser Party nach dem Rugbyspiel in Cambridge zu tun, Anfang des Jahres, wo Sie sich unbefugten Zutritt verschafft haben, um Bekanntschaft mit Luke Penhallow zu schließen.« Ein Anflug von Ärger ließ sie alle Vorsicht vergessen.
»Ich habe mir nicht unbefugten Zutritt verschafft! Ich wurde von jemandem eingeladen, den ich während des Spiels kennen gelernt hatte. Ich hab Ihnen bereits gesagt, dass ich ein wenig nachgeholfen habe, aber das ist noch lange nicht das Gleiche wie unbefugter Zutritt! Ich bin mit jemandem zu dieser Party gegangen!«
»Und es wurden Bilder gemacht? Mit Blitz, nehme ich an. Die Fotos wurden gut genug, um Sie zu Ihrer Reise nach Bamford zu bewegen, wo Sie die Aufnahmen Ihrem Vater zeigen wollten.«
»Das ist richtig.« Bei der Erinnerung daran errötete sie heftig.
»Wie hat er reagiert? Auf den Anblick der Fotos?«
»Er war nicht gerade erbaut«, räumte sie ehrlich ein und warf einen Blick zu dem kleinen Barschrank.
»Hören Sie, ich schenke Ihnen gerne einen Sherry oder etwas anderes aus.« Sie erhob sich von ihrem. Sessel.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Markby. Kate zögerte auf halbem Weg zum Barschrank und starrte den Superintendent an. Er erwiderte ihren Blick höflich, und auf seinem Gesicht stand nicht mehr als mildes Interesse. Die blonden Haare fielen ihm über die Stirn. Mit seinem schmalen Gesicht, faltenlos bis auf die schwachen Krähenfüße an den Rändern der blauen Augen, umgab ihn eine Aura von zeitloser Jugend. Es erinnerte sie irgendwie an eine Aufnahme einer Schulgruppe. Vielleicht das Kricketteam. Trotzdem, wenn er mit ihrem Vater zusammen zur Schule gegangen war, dann musste er inzwischen gegen Ende vierzig sein.
»Ich würde gerne die Schnappschüsse sehen, die Sie Ihrem Vater gezeigt haben«, beharrte er sanft.
»Haben Sie die Bilder noch?« Frustriert und verärgert stampfte sie die Treppe hinauf, um die Fotos hervorzukramen. Sie war alarmiert, obwohl sie keine Ahnung hatte, was an diesen Bildern so interessant für den Bullen sein mochte. Sie zeigten nichts, was er nicht bereits wusste oder in Erfahrung gebracht hatte. Wollte er sich vielleicht lediglich von ihrer Existenz überzeugen? War er so gründlich? Ja, dachte sie gereizt, wahrscheinlich war er von der pedantischen Sorte. Sie wurde nicht gerne an die Fotografien erinnert oder an ihren Trick, sie ihrem Vater zu zeigen, ein absoluter Fehlschlag, wie sie im Nachhinein erkannt hatte. Sie hatte die Bilder nicht wieder angesehen, weil sie sich irgendwie dafür geschämt hatte. Sie verspürte auch jetzt keinen Drang, sie zu betrachten. Kate steckte die Finger in ihren Beutel und wühlte darin herum. Als sie keinen Erfolg hatte, zog sie den Verschluss des Beutels ganz auseinander und kippte den Inhalt auf den Boden. Einen Augenblick lang kauerte sie verwirrt vor den verstreut liegenden Dingen. Dann stand sie auf und blickte sich im Zimmer um. Sie hatte nur wenige Besitztümer bei sich, und es war eine Angelegenheit von Sekunden, sie alle nachzuprüfen. Sie zog die Schublade auf, in der sie ihren mageren Vorrat an Unterwäsche nun ärgerlich durchwühlte, nur um sie frustriert wieder zuzuknallen. Sie nahm den Stapel Taschenbücher neben dem Bett zur Hand, nur um sicherzugehen.
»Scheiße!«, murmelte sie und machte sich auf den Rückweg die Treppe hinunter, viel langsamer als auf dem Weg nach oben. Markby saß immer noch in seinem Sessel. Er sah aus, als wäre er hier zu Hause. Im Allgemeinen kam Kate gut mit der Polizei zurecht. Nun ja, jedenfalls mit diesem Sergeant, der sie zum Tee eingeladen hatte. Doch dieser Mann, dieser Superintendent Markby, war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er machte ihr Angst. Nicht, dass er sich unfreundlich oder bedrohlich verhielt, bisher jedenfalls nicht. Tatsächlich war er sogar ein wenig zu höflich gewesen. Doch sie ließ sich davon nicht narren. In der Tür verkündete sie trotzig:
»Sie sind nicht da. Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich habe sie wieder in meinen Beutel gepackt, nachdem ich sie meinem Vater gezeigt hatte. Vielleicht hab ich sie im Crown liegen lassen.«
»Sie haben die Bilder jemandem im Crown Hotel gezeigt?«
»Nein, verdammt!« Sie bemühte sich verzweifelt, ihre schriller werdende Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Ich habe sie niemandem … ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie aus der Tasche genommen hätte, während ich im Crown gewohnt habe. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht so gewesen ist. Vielleicht habe ich den Umschlag zur Seite gelegt, als ich meinen Toilettenbeutel und meine Haarbürste rausgenommen habe.« Ihr kam ein Gedanke.
»Ich hoffe nur, dass …« Sie stockte, doch es war zu spät. Er hob fragend eine Augenbraue.
»Sie hoffen nur was?« Sie konnte ihm die Antwort verweigern. Sie konnte versuchen, seine Frage mit
»Ach, nichts« abzutun. Doch er würde es nicht akzeptieren. Er war ein Mann, dessen Fragen man besser beantwortete. So ruhig sie konnte, erwiderte sie:
»Ich hoffe nur, dass dieser scheußliche Barmann sie nicht in die Finger bekommen hat.«
»Lee Joss? Warum oder wie sollte das möglich sein? Warum nennen Sie ihn scheußlich? War er oben bei Ihnen auf dem Zimmer?«
»Nein!«, fauchte sie.
»Aber er war neugierig! Er wollte alles über mich wissen und hat nach Informationen geangelt. Natürlich hat er sein Glück versucht! Das tun sie immer. Ich habe ihn schnell wissen lassen, wo er bei mir landen konnte, sehr schnell, nämlich nirgends! Oder vielleicht war es auch das Zimmermädchen, das in meinen Sachen geschnüffelt hat. Sie war ebenfalls neugierig. Vielleicht haben die beiden zusammen etwas ausgebrütet. Vielleicht hat sie die Bilder genommen und ihm gezeigt. Ganz ausschließen kann ich es nicht. Hören Sie, warum wollen Sie die Bilder überhaupt sehen?«
»Es war nur ein Gedanke. Ich möchte die Lücken füllen, wissen Sie?«
»Die Bilder füllen keine Lücken.«
»Aber es macht Sie offensichtlich betroffen, dass sie nicht mehr da sind.«
»Es macht mich wütend«, entgegnete Kate kalt.
»Es ist ärgerlich. Aber das geht Sie nichts an. Wenn sie weg sind, ist das mein Problem.« Sie war erleichtert, als sie sah, dass Markby sich aus dem Sessel erhob, doch ihre Erleichterung sollte nur von kurzer Dauer sein.
»Übrigens«, sagte er beiläufig,
»wir waren immer noch nicht im Stande, mit dem Lastwagenfahrer zu sprechen, der Sie vor Bamford abgesetzt hat. Nach unseren Informationen ist er gegenwärtig auf dem Rückweg aus der Türkei.«
»Sie untersuchen wahrscheinlich jeden kleinen Hinweis, der meine Geschichte widerlegen könnte, wie?«, fauchte Kate.
»Sie haben meine Klamotten abgesucht und nichts gefunden, und jetzt wollen Sie harmlose Bilder sehen und mit diesem blöden Lastwagenfahrer reden! Was glauben Sie, was Sie finden werden? Beweise? Beweise für was? Ich habe meinen Vater nicht umgebracht! Das ist es, was Sie beweisen wollen, richtig? Dass ich ihn ermordet habe? Das wird Ihnen nicht gelingen. Das können Sie nicht. Ich habe es nicht getan, und Sie werden es nicht so hindrehen können, als hätte ich es getan! Freddie sitzt Ihnen im Nacken und passt auf. Freddie wird alles regeln. Er spricht mit Sir Montague Ling!« Das war ein Fehler. Sie wusste es instinktiv. Sie hätte den Namen des Strafverteidigers nicht erwähnen dürfen. Sie fürchtete bereits, Markby würde sich erkundigen, warum Freddie mit Montague Ling reden wollte, wenn sie doch unschuldig war, und warum sie bereits Vorbereitungen für den Fall traf, dass man sie vor Gericht stellen würde. Doch er schwieg.
»Keine Sorge.« Der entgegenkommende, höfliche Ausdruck war auf sein Gesicht zurückgekehrt.
»Und vergessen Sie bitte nicht, dass Beweise auch dazu dienen können, Unschuldige zu entlasten. Niemand wird Ihnen etwas unterstellen, das Sie nicht getan haben. Wir müssen alles nachprüfen, weiter nichts. Das ist der Grund, aus dem wir mit dem Lastwagenfahrer reden müssen, sobald er zurück ist, und das kann nicht mehr lange dauern.« Markby lächelte sie an, doch sie hatte das Gefühl, als wäre es das sprichwörtliche Grinsen des Tigers, und das beruhigte sie nicht im Geringsten. Was Eddie Evans’ Rückkehr nach England anging, so irrte Markby. Eddies Zeitplan sollte gewaltig durcheinander gewirbelt werden, doch das ahnte in diesem Augenblick nicht einmal Eddie – wenngleich er es bald herausfinden sollte. Er saß hinter dem Steuer seines Sattelschleppers und kroch in den griechischen Bergen die Serpentinen einer Passstraße hinauf, auf dem Weg zur Grenze der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien. Zu seiner Rechten zog sich eine kahle Berglandschaft hin, übersät von vereinzelt wachsenden Büschen und verbrannt vom Sonnenlicht. Schwarz gekleidete Frauen mühten sich mit Hacken auf winzigen Feldern ab. Sie arbeiteten mit vorgebeugten Oberkörpern und gestreckten Knien. Oberhalb der Straße standen weiß gekalkte Dörfer mit Kuppelkirchen. Eddie passierte die Ruinen eines ehemaligen türkischen Forts, das noch älter war als die Türken, wie die Fundamentsteine Eddie hätten verraten können. Eddie mochte diesen Teil der Erde. Er pfiff fröhlich vor sich hin. Dann bog er um eine Ecke und sah ein anderes Fahrzeug, das die Straße blockierte. Eddie trat in die Bremsen. Das andere Fahrzeug war das letzte in einer langen Schlange. In Eddie stieg eine düstere Vorahnung auf, und das Pfeifen blieb ihm im Hals stecken. Nach einigen Minuten des Stehens schaltete er den Motor aus und kletterte aus seiner Kabine. Er ging nach vorne zur Spitze der multinationalen Kolonne, um nach der Ursache für den Stau zu forschen. Bald hatte er sie herausgefunden. Er umrundete eine Biegung und fand die Straße auf der gesamten Breite von dicht an dicht geparkten Traktoren und einer kleinen Armee militanter griechischer Bauern versperrt. Eddie näherte sich einer Gruppe von Männern, eindeutig gestrandete Trucker wie er selbst. Sie saßen im Schatten eines kleinen Olivenhains neben der Straße und spielten Karten. Auf einem Butagaz-Öfchen stand ein verbeulter Blechkessel und lieferte das erforderliche heiße Wasser für Tee.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Eddie.
»Keine Ahnung«, antwortete der ihm am nächsten sitzende Kartenspieler.
»Aber ein paar der Typen haben Flinten, und sie sind allesamt ziemlich nervös. Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit denen anzulegen. Wenn sie mir sagen, halt an, dann halte ich an. Hat wohl irgendwas mit dem gemeinsamen Markt zu tun oder so.« Er goss ein süßlich riechendes Gebräu in einen Emaillebecher und reichte ihn Eddie.
»Hier, nimm einen.«
»Danke.« Eddie nippte am heißen Tee und spähte vorsichtig zu einem in der Nähe stehenden Briganten, einem schnauzbärtigen Burschen, der auf seinem Traktor saß und aus einem ledernen Schlauch etwas trank – wahrscheinlich Selbstgebrautes. Er trug ein Gewehr über der Schulter. Die Kleidung des Mannes war an mehreren Stellen geflickt und staubig, und der abgerissene Hut hatte jegliche Form verloren, doch das Gewehr glänzte makellos. Eddie zweifelte nicht daran, dass sein Besitzer, ob nun nüchtern oder betrunken, ein Meisterschütze war.
»Wie lange wartet ihr schon hier?«, fragte er die Kartenspieler.
»Seit dem frühen Morgen. Die Polizei kam her, hat sich die Sache kurz angesehen und ist wieder weggefahren. Es könnte Tage dauern, bis wir hier wegkommen.« Eddies Informant verkündete seine düstere Prophezeiung mit bemerkenswerter Gelassenheit.
»Hast du verderbliche Sachen geladen?«
»Trockenfrüchte«, sagte Eddie.
»Feigen, Rosinen und so’n Zeugs.«
»Dann ist es ja kein Problem für dich«, sagte der andere.
»Und verhungern musst du auch nicht.« Der bewaffnete Demonstrant auf dem Traktor hustete, wischte sich mit dem Handrücken über den schwarzen Schnurrbart und hob den Lederschlauch freundlich in Eddies Richtung.
»Yassou!«, rief er ihm entgegen.
»Oreksi!«
»Ja, ja, Cheers, Kumpel«, erwiderte Eddie. Er setzte sich unter den nächsten Olivenbaum und nahm seine Zigaretten hervor. Es würde ein langer Tag werden.
KAPITEL 15
KURZ VOR achtzehn Uhr abends kehrte Carla Penhallow von ihrem Trip nach London heim. Dunkle Ringe umgaben ihre Augen, und sie war eindeutig erschöpft. Kates Frage, wie der Tag gewesen sei, wurde mit dem dürftigen Versuch einer höflichen Antwort abgeschmettert. Jede weitere Bemühung, eine Konversation in Gang zu bringen, endete mit Lukes Heimkehr aus Cambridge. Er reagierte genauso gereizt wie seine Mutter. Es folgte ein Abendessen in angespannter Atmosphäre, nicht unähnlich den vorangegangenen. Diesmal gab es ein tiefgefrorenes, in der Mikrowelle zubereitetes Fertiggericht, das nach der Aufschrift auf der Verpackung irgendein thailändisches Pfannengemüse darstellen sollte. Weder Luke noch Carla erkundigten sich, wie Kate ihren Tag verbracht hatte, und sie war erleichtert darüber. Es bedeutete, dass sie nichts von Markbys Besuch erzählen musste – sie hatte den ganzen Tag überlegt, wie sie es erklären sollte. Zum Teil wegen der Spannung in der Luft, zum Teil aus Angst, dass vielleicht doch noch jemand fragen könnte, was sie gemacht hatte, falls sie unten bliebe, ging Kate an jenem Abend früh zu Bett. Sie meinte, Erleichterung bei den beiden Penhallows zu bemerken, als sie ihnen Gute Nacht wünschte. Sie nahm sich ein Buch von dem Stapel auf dem Nachttisch und begann darin zu lesen. Ihre Tage auf Tudor Lodge nahmen bereits gewohnheitsmäßige Formen an, und es waren keine Formen, die sie ermutigten. Das Taschenbuch war ein alter Liebesroman von Georgette Heyer, Zerstreuungsliteratur, von der sie sich erhoffte, in eine andere Welt entführt zu werden. Doch es funktionierte nicht. Es fiel ihr schwer, Anteil zu nehmen am Schicksal irgendeines Regency-Püppchens, das am Ende ohne jeden Zweifel von seinem Helden gerettet werden würde, während Kate selbst einen Ritter in Rüstung benötigte, der auf seinem weißen Ross herbeigeprescht kam und sie aus etwas errettete, das sich mehr und mehr wie Treibsand anfühlte. Doch sie würde vergebens warten. Nach Kates Erfahrung gab es keine Leute, die so etwas für andere taten. Andere Leute ließen einen in den Treibsand fallen, aber niemand reichte einem je die Hand und half einem wieder heraus. Man musste es allein schaffen.
»Das alles habe ich überhaupt nicht gewollt, verdammt!«, murmelte sie. Alles war von Anfang an völlig schief gelaufen. Sie hatte es schlecht geplant und in der Folge vermasselt. Und jetzt stand sie vor dem Desaster und musste sehen, wie sie es geordnet bekam. Sie ging ihre Möglichkeiten durch. Was die praktischen Dinge anging, konnte sie sich bis zu einem gewissen Punkt auf Freddie Green verlassen. Doch Kate machte sich keine Illusionen, was Freddies eigentliches Interesse anging. Freddie rührte niemals einen Finger, wenn er sich nicht etwas davon versprach. Kate konnte es ihm nicht verdenken, im Gegenteil, sie verstand es sehr gut, und auf ihre Weise billigte sie es sogar. Es kam immer wieder auf das Gleiche hinaus; niemand passte auf einen auf, außer man selbst. Manchmal jedoch konnte man die Menschen überreden, bestechen oder manipulieren, sich nützlich zu machen. Sie hatte diesen leicht zu beeindruckenden jungen Detective Sergeant Prescott nicht vergessen. Kate grinste schief. Sergeant Prescott war wohl kaum eine Trumpfkarte, doch er war eine Karte im Ärmel, die sie vielleicht noch spielen musste, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Eigentlich sollten sie jetzt. Man konnte nicht immer gleich beim ersten Versuch alles richtig machen. Doch wenn man aus seinen Fehlschlägen lernte, dann gelang es beim nächsten Mal. Kate hatte nicht vor, noch weitere Fehler zu begehen. Eines nach dem anderen würde sie die losen Enden packen und verknoten, und wenn sie fertig war, würde sie sich zurücklehnen und an dem erfreuen, was sie erlangt hatte.
»Und ich habe ein Recht darauf!«, flüsterte sie laut für den Fall, dass das Haus, das irgendwie eine eigene Persönlichkeit zu besitzen schien, irgendwelche Zweifel hegte an ihrem Recht, hier zu sein. Sie legte das Buch beiseite, schaltete das Nachtlicht aus und sank in den Schlaf.
Luke lag wach in der Dunkelheit und dachte über seinen Tag nach.
Merkwürdig , dachte er, während er dem vertrauten Knarren und Knacken des alten Holzes lauschte, das ringsum im Haus arbeitete. Wirklich ein merkwürdiger Tag.
Er durchlebte in Gedanken alles noch einmal, die Unterhaltungen, die Gesichter der Menschen. Das Wort, das sich ihm am ehesten dafür aufdrängte, war
»verlegen«, gefolgt von
»peinlich«. Es waren keine Worte, die Luke vor diesem Tag mit einem Mord assoziiert hätte. Mord war vieles, doch er hätte nie gedacht, dass er
»peinlich« sein könnte. Und doch war es ohne den geringsten Zweifel so. Die Leute hatten ihm verlegen ihr Beileid ausgedrückt und ihm gute Ratschläge erteilt. Viel lieber wären sie ihm wahrscheinlich aus dem Weg gegangen. Es war schon unter normalen Umständen nicht einfach, einem Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen, doch dem Hinterbliebenen eines Mordopfers … was sollte man ihm denn sagen?
Am Ende war es Luke so vorgekommen, dass das Mitgefühl in die falsche Richtung geflossen war, nicht von ihnen zu ihm, sondern von ihm zu ihnen. Sie hatten ihm Leid getan, wegen ihres Unbehagens und ihrer Verlegenheit. Sie hingegen waren ihm weniger mit Mitgefühl als mit Nervosität begegnet, sogar Furcht, als wäre es ansteckend, der Angehörige eines Ermordeten zu sein, wie Windpocken.
Einige waren auch einfach nur neugierig gewesen, teilweise offen, teilweise verschleiert. Leute, die nicht imstande waren, den Drang zum Starren und Gaffen zu beherrschen, waren seinen Blicken nervös ausgewichen und hatten angefangen zu stottern, wenn er sie angesprochen hatte. Er hatte innerhalb kürzester Zeit den Status eines Freaks erlangt. Selbst bei seinem Tutor hatte Luke neben einem Strom von Plattitüden und einem Verhalten, das einem aufgeblasenen Prälaten gut angestanden hätte, eine entschiedene Irritation bemerkt. Durch Luke war ein Hauch rauer Wirklichkeit, von Blut und zerschmetterten Knochen, von sinnloser Gewalt und Grausamkeit, die jeder Zivilisation spottete, in die heiligen Hallen der Akademie gekommen.
Der Tutor hatte es eilig gehabt, seinen peinlichen Besuch wieder loszuwerden. Luke war nicht schnell genug weggekommen. Doch früher oder später musste er zurückkehren, sich zusammenreißen und das Studium wieder aufnehmen. Das Leben musste weitergehen. Er hatte die Fahrt seiner Mutter nach London nicht gutgeheißen und hielt sie immer noch für unklug und zu früh, doch er konnte nun verstehen, warum sie gefahren war. Die Welt empfand Mitleid mit einem, doch sie blieb deswegen nicht stehen. Wenn man ausstieg, drehte sie sich weiter und ließ einen allein zurück.
Mit dieser ernüchternden Erkenntnis schlummerte Luke ein.
Er erwachte inmitten einer qualvollen Panikattacke. Er setzte sich schwitzend im Bett auf, alle Sinne durcheinander, und das Herz hämmerte ihm bis zum Hals. Das Zimmer war hell erleuchtet, doch es waren nicht die kühlen Pastelltöne des anbrechenden Tages. Dieses Licht hatte einen unnatürlichen rötlichen Schein, der zwischen Orange und Blutrot wechselte. Wilde Schatten tanzten über die Wände und sprangen ihm entgegen. Er hörte ein fernes Brüllen wie von einem gigantischen Brennofen. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, gestorben und für eine unbekannte Todsünde in ein gotisches Inferno verbannt worden zu sein. Doch die albtraumhafte Szene fand in seinem Zimmer statt, mit den vertrauten Möbeln, den Büchern und der Kleidung vom vergangenen Abend unordentlich auf einem Stuhl. Was hatte das zu bedeuten? Etwas Grauenvolles musste vorgehen.
Luke sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Der Himmel hinter Sawyers Garage leuchtete in grellem Rot, und als Luke das Fenster aufriss, gesellten sich das Klirren berstenden Glases und das Krachen splitternder Balken zu dem Brüllen des Hochofens.
Luke rannte nach draußen in den Korridor hämmerte an die Tür des mütterlichen Schlafzimmers.
»Mum! Mum! Steh auf und zieh dich an, schnell! Drüben in Sawyers Bungalow ist ein Feuer ausgebrochen, und die ganze verdammte Tankstelle könnte in die Luft fliegen! Wir müssen weg von hier!«
Er rannte durch den Korridor zu Kates Zimmer, hämmerte gegen die Tür und brüllte ihr die gleiche Warnung zu, während seine Mutter hinter ihm im Schlafanzug auf den Gang gestolpert kam.
Ihre verängstigten Fragen gingen unter im Heulen der Sirenen herbeirasender Löschzüge.
Es war das beharrliche Heulen der Sirenen, das Meredith Mitchell aus dem Schlaf riss. Zuerst drehte sie sich nur um und versuchte weiterzuschlafen. Doch dann gesellte sich eine zweite Sirene zur ersten, und ihr dämmerte allmählich, dass irgendwo in der Gegend ein größerer Brand ausgebrochen sein musste.
Sie stieg aus dem Bett und tappte barfuß zum Fenster. Im ersten Moment glaubte sie, dass die Morgendämmerung angebrochen sei, denn der Himmel im Osten war in einen rötlichen Schein getaucht. Ein Blick auf ihren Wecker belehrte sie eines Besseren. Es war erst kurz nach drei. Über dem Schein hingen dunkle Wolken, und wenn sie richtig gerechnet hatte, dann brannte es in der Gegend von Tudor Lodge.
Meredith schaltete das Licht ein und schlüpfte in Jeans und einen Pullover. Sämtliche Ängste, die sie seit dieser Geschichte unterdrückt hatte, stiegen nun mit Macht in ihr auf und kulminierten in einer Panik, die sich nur mühsam unter Kontrolle halten ließ. Sie hatte gewusst, dass Kate Dragos Einzug in Tudor Lodge in eine Katastrophe münden würde. Doch so schnell?
Sie fuhr durch die dunklen, verlassenen Straßen der Stadt, während sie sich unablässig sagte, es sei albern zu glauben, sie könne den Brandherd mit einem Blick aus ihrem Fenster so genau lokalisieren. Es gab nicht den geringsten Grund, aus dem es in Tudor Lodge brennen sollte. Und als sie vor dem alten Haus ankam, stellte sie – zunächst mit großer Erleichterung – fest, dass dem tatsächlich nicht so war. Das Feuer war hinter den Reihencottages ausgebrochen, und dort gab es nur noch Sawyers Tankstelle.
Die Erleichterung währte nicht lange. Inmitten der Szenen von kontrolliertem Chaos war eine organisierte Evakuierung der Bewohner im Gang. Nicht nur die Feuerwehr war bereits am Ort des Geschehens, sondern auch Polizei und Krankenwagen. Ein uniformierter Beamter winkte sie zur Seite.
»Sie können hier nicht durch, Miss, tut mir Leid. Sie müssen umkehren, und bitte machen Sie schnell, ja?«
»Ich habe Freunde in Tudor Lodge, dem großen Haus dort hinten!«, brüllte sie dem Beamten durch das heruntergelassene Seitenfenster zu. Das Tosen der Flammen, das Rauschen des Wassers, das Zischen des Dampfes, die Rufe der Feuerwehrleute, all das drohte ihre Antwort zu ersticken.
»Wir werden jeden rechtzeitig evakuieren, keine Sorge! Alle Anwohner werden in die Gemeindehalle gebracht. Sie finden Ihre Freunde in der Gemeindehalle.« Er wurde ungeduldig, und er hatte guten Grund dazu. Niemand musste Meredith erklären, was ein Feuer auf einer Tankstelle bedeutete. Trotzdem brüllte sie eine letzte Frage.
»Brennt die Tankstelle, oder ist es nur ein Nebengebäude?«
»Nein, nur der Bungalow dahinter – aber die Tankstelle kann trotzdem in die Luft fliegen! Werden Sie nun bitte augenblicklich aus der Gefahrenzone verschwinden? Ich muss darauf bestehen!« Meredith wendete den Wagen und fuhr zur Gemeindehalle zurück, die in helles Licht getaucht lag. Sie wurde von James Holland in Empfang genommen, dem Vikar, der in Kordhosen und einem weiten Guernsey-Pullover im Eingang stand – wahrscheinlich eine von vielen ähnlichen Spenden dankbarer, strickender Kirchengemeindemitglieder.
»Ah, Meredith!«, rief er, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass sie um diese Zeit hier auftauchte.
»Sind Sie gekommen, um mir ein wenig zur Hand zu gehen? Das ist wunderbar! Sie können den Tee kochen. Die Leute sind bestimmt dankbar für eine heiße Tasse Tee, sobald sie hier eintreffen!« Bevor Meredith wusste, wie ihr geschah, mühte sie sich mit einem gigantischen Kessel ab und kramte in den Schränken nach Tassen und Bechern. Die Evakuierten von der Brandstelle trafen wenige Augenblicke später ein. Sie alle wirkten benommen und verängstigt. Merediths besorgte Blicke fanden Luke, Carla und Kate, also waren sie unverletzt und in Sicherheit. Und dort kam auch Mrs Flack, angezogen wie immer in einer Kittelschürze, auch wenn ihre Haare von einem Netz gehalten wurden und ihre Füße in Gummistiefeln steckten. Sie trug eine voluminöse alte Handtasche bei sich, in die sie offensichtlich in aller Hast sämtliche greifbaren Dokumente gestopft hatte, und unter dem anderen Arm ein großes, gerahmtes Foto. Von allen Ankömmlingen schien Irene Flack diejenige zu sein, die am wenigsten aufgeregt war. Sie ging geradewegs in die Kochnische des Raums, stellte ihre Handtasche auf die Arbeitsplatte und das Bild daneben (es zeigte den verstorbenen Mr Flack), um anschließend Zucker in Schalen zu schütten und Biskuits auf Teller zu legen.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen, meine Liebe, ich weiß es nicht«, lautete ihre Antwort auf Merediths neugierige Fragen.
»Ich weiß nur, ich bin plötzlich aufgewacht, weil ich ein ganz merkwürdiges Geräusch gehört hab. Eine Art langes Buuuummm!« Sie sah Meredith an.
»Wissen Sie, was ich meine?«
»Eine Explosion?«, fragte Meredith. Mrs Flack runzelte die Stirn.
»Nicht ganz, nein … na ja, ich weiß im Grunde genommen nicht, wie sich eine Explosion anhört. Eine Art Schlag war es, dann ein zischendes Geräusch, so ein Wusch!, wie das Geräusch bei einem Feuerwerk, wenn die Zündschnur angesteckt wird. Um ehrlich zu sein, im ersten Augenblick hab ich geglaubt, irgendwelche Schabernack treibenden Jugendlichen wären in der Nacht unterwegs und würden mit Feuerwerk spielen, obwohl es nicht die richtige Jahreszeit ist. Dann wurde der Himmel rot und orange, wie diese Blutorangen, die wir als Kinder bekommen haben und die man heutzutage in keinem Geschäft mehr finden kann. Mein Schlafzimmerfenster zeigt auf Harrys Tankstelle hinaus. Ich hab rausgesehen und festgestellt, dass Harrys Bungalow brannte.« Sie hatte unterdessen angefangen, Tee in Becher zu schütten, doch jetzt stockte sie.
»Ich habe Harry nirgends gesehen. Sie?« Sie klang besorgt.
»Ich hatte gehofft, er wäre hier bei den anderen.« Meredith hatte Harry Sawyer ebenfalls nicht gesehen.
»Das heißt nicht, dass er nicht noch am Leben ist«, versicherte sie Mrs Flack. Sie hatte den Krankenwagen nicht vergessen, den sie unterwegs gesehen hatte.
»Ich habe die Feuerwehr angerufen und mich angezogen«, fuhr Irene Flack in ihrer Erzählung fort.
»Ich dachte, ich könnte rüberrennen zu Harry und nachsehen, ob er aus dem Haus und alles mit ihm in Ordnung ist. Aber das Feuer war so heiß und wütend. Dann kam auch schon die Feuerwehr und die Polizei, und man sagte uns, wir müssten alle ganz schnell weg von dort.« Meredith nahm ein Tablett mit Bechern voller Tee und ging nach draußen in die Halle. Noch immer nirgendwo eine Spur von Harry Sawyer. Das sah nicht gut aus. Sie kannte niemanden von den anderen Leuten, außer der alten Frau mit dem langen Zopf, Mrs Joss, die sich in Begleitung einer Reihe unterschiedlichster Charaktere in unterschiedlichen Altersstufen befand, vermutlich ihre Familienangehörigen. Ein junger Bursche mit einem von diesen modischen Kurzhaarschnitten, forderte, dass er sein Motorrad mit in die Gemeindehalle nehmen durfte, zur Sicherheit, wie er sagte, doch Vater Holland widersprach energisch. Die anderen befanden sich mitten in einer heftigen Diskussion, bei er es um eine alte Schachtel aus Pappe ging. Die Schachtel stand am Boden, und aus ihrem Innern kam ein verzweifeltes Jaulen, gefolgt von wildem Scharren und Kratzen.
»Da sind die Katzen der alten Mrs Joss drin«, erläuterte Irene Flack, die neben Meredith getreten war.
»Jedenfalls zwei von ihnen. Sie wollte nicht ohne ihre Katzen gehen. Die dritte ist weggerannt und inzwischen wahrscheinlich über alle Berge. Die beiden anderen haben wir in diese Schachtel gestopft … nicht, dass Dan Joss besonders hilfreich gewesen wäre.« Meredith nahm an, dass Dan Joss der bierbäuchige, unrasierte und ungeschlachte Riese war, der seine Mutter mit freundlichen Worten
»tröstete«.
»Hältst du vielleicht endlich mal für eine Weile die Klappe, Mum? Deine verdammten Katzen sind in Sicherheit, und sie sind nicht gerade das, was ich als Erstes retten würde, wenn es brennt, das kann ich dir sagen!«
»Pixie ist weggelaufen!«, heulte Mrs Joss.
»Er hat bestimmt viel zu viel Angst, um von alleine wiederzukommen! Er ist auf die Felder gerannt, wo die Füchse ihn jagen werden!«
»Könnt nicht ihr euch mal für eine Weile um sie kümmern?«, wandte sich Dan Joss an die übrigen Frauen der Familie. Zwei davon machten sich über die Alte her. Sie sahen einander verblüffend ähnlich, auch wenn eine der beiden deutlich älter und stärker geschminkt war. Meredith nahm an, dass es sich um Mutter und Tochter handelte. Sie redeten lauthals auf die alte Frau ein.
»Keine Sorge, Großmutter, es ist alles in Ordnung!« Meredith trat mit ihrem Tablett zu ihnen und bot jedermann Tee an. Sie rissen ihr die Becher fast aus der Hand, einschließlich des kurzhaarigen Motorradfreaks. Irgendwann hob Meredith mehr zufällig den Kopf und entdeckte ein jugendliches Gesicht vor sich, das sie ziemlich genau kannte, auch wenn sie ganz gewiss nicht erwartet hatte, es hier zu sehen. Es gab einen Augenblick gegenseitigen Erkennens. Rund und blass, mit einem kurz geschnittenen roten Haarschopf, starrte er zurück, die Augen weit vor Überraschung. Dann wich das Unbehagen einer misstrauischen Widerspenstigkeit. Bevor Meredith etwas sagen oder tun konnte, erschien Luke Penhallow neben ihr und lenkte sie ab. Der Besitzer des rundlichen Gesichts nutzte die Gelegenheit, um sich in einen anderen Teil der Halle zu verdrücken.
»Wie sind Sie denn hergekommen, Meredith?« Luke wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr gleich fort:
»Meredith, können Sie Mum mit zu sich nach Hause nehmen? Die Polizei sagt, wir müssten alle hier warten, bis sie uns erlauben, wieder nach Hause zu gehen, was nicht vor morgen früh sein wird, falls überhaupt schon so bald. Sie wissen nicht, wie lange sie brauchen, um das Feuer zu löschen; anschließend muss die Feuerwehr erst noch die Gegend für sicher erklären.«
»Selbstverständlich können Sie alle bei mir zu Hause übernachten!«, bot Meredith an.
»Nehmen Sie sich etwas Tee, Luke. Und nehmen Sie das hier für Carla und Kate mit!« Sie drückte ihm das Tablett mit den drei verbliebenen Bechern in die Hand.
»Was ist überhaupt passiert, Luke? Wurde jemand verletzt? Irene Flack sucht nach Harry Sawyer, er ist nicht hier in der Halle, und ich habe unten in der Straße einen Krankenwagen gesehen …«
»Sie waren da? Es ist Harrys Bungalow. Ich hoffe, dem armen Kerl ist nichts passiert. Das Haus ist in Flammen aufgegangen wie ein Freudenfeuer! Ich habe Harry auch nicht gesehen. Die Feuerwehrleute machen sich Sorgen wegen der Benzintanks, auch wenn sie unter der Erde liegen. Aber es ist genug Dampf überall, um eine gewaltige Explosion hervorzurufen.«
»Kampfstationen, Meredith!«, dröhnte Vater Holland neben ihr. Er war mit den ersten von mehreren Kisten mit Bettzeug aus dem Vikariat eingetroffen. Luke sprang auf und ging nach draußen, um den Rest zu holen.
»Das sind unsere Notvorräte«, schnaufte der Vikar.
»Sie riechen ein wenig muffig, aber ich denke nicht, dass sie feucht sind. Geben Sie jedem eine Decke oder einen Schlafsack, ja?« Die Josses warteten nicht erst, bis sie an der Reihe waren. Sobald die Kisten mit dem Bettzeug auf dem Boden standen, drängten sie sich heran und nahmen sich, was sie brauchten.
»Hey!«, rief Meredith indigniert und rettete unter Mühen einen alten Schlafsack und eine fadenscheinige Decke aus ihren Fängen. Sie brachte beides zu Carla und Kate, die nebeneinander kauerten, Becher mit heißem Tee in den Händen.
»Hier, legt euch die Sachen um die Schultern. Ihr müsst euch warm halten. Der Schock …« Meredith schüttelte die Decke aus und legte sie Carla um.
»Wir müssen noch eine kleine Weile warten. Sobald ich von hier weg kann, bringe ich euch alle zu mir nach Hause. Ihr könnt bei mir übernachten.«
»Ich bleibe hier«, entschied Luke, der ebenfalls hinzugekommen war.
»Damit ich weiß, wie sich die Dinge entwickeln. Sobald wir die Genehmigung zur Rückkehr nach Tudor Lodge erhalten, komme ich vorbei und gebe Bescheid. Nehmen Sie Mum mit … und Kate.«
»Nein danke«, sagte Kate Drago leise und mit gepresster Stimme.
»Ich bleibe auch hier.«
»Meinetwegen!«, fauchte Luke verärgert.
»Dann nehmen Sie wenigstens Mum mit, Meredith, ja? Und du widersprichst nicht, Mum!«
»Ich widerspreche ja gar nicht«, sagte Carla kläglich, während sie mit den Fingern an der fadenscheinigen Decke zupfte.
»Ich will nicht hier bleiben, ganz bestimmt nicht, mit all den Josses um mich herum! Wo ist nur die arme Irene?«
»In der Küche«, sagte Meredith.
»Sie kann auch bei mir schlafen, wenn sie möchte.« Doch Mrs Flack erklärte auf Merediths diesbezügliches Angebot, dass sie lieber in der Gemeindehalle bleiben würde, wenn niemand etwas dagegen hätte, wo sie sich nützlich machen und helfen könnte. Es war bereits Viertel vor fünf Uhr morgens, als Meredith endlich mit Carla Penhallow zu ihrem kleinen Reihenendhaus in der Station Road fuhr. Hinter ihnen, in der Gemeindehalle, hatten die Josses sich zum Schlafen hingelegt, eingewickelt in Decken wie Schmetterlingspuppen. Sie bildeten einen Kreis, mit den Füßen in der Mitte, wie ein überdimensionales Gänseblümchen. Mrs Flack war mit dem Abwasch beschäftigt und schien sich in ihrem Element zu fühlen, auch wenn sie sich immer noch Sorgen machte wegen der ausbleibenden Neuigkeiten über Harry Sawyer, den Tankstellenbesitzer. Die Katzen der alten Mrs Joss waren aus ihrem Gefängnis entlassen worden, doch weil sie keine gewöhnlichen Katzen waren, hatten sie sich zusammen mit der restlichen Familie Joss zum Schlafen gelegt.
»Du nimmst mein Bett«, entschied Meredith.
»Nein, keine Widerrede. Ich muss nur kurz einen frischen Bezug drauf machen.«
»Und wo schläfst du?«, fragte Carla dumpf, während sie auf dem Sofa saß und Meredith aus verwirrten Augen anstarrte.
»Ich gehe nicht wieder zu Bett, nicht jetzt. Vielleicht lege ich mich hier unten ein wenig auf das Sofa. Ich rufe gleich morgen Früh im Büro an und erkläre, dass es in der Nacht einen Notfall gegeben hat und ich nicht zur Arbeit kommen kann. Es ist außerdem sowieso schon Freitag.« Sie bugsierte Carla Penhallow nach oben, und es gelang ihr, sie zum Schlafen zu überreden, bevor sie nach unten zurückkehrte und sich auf die Couch legte. Erst da warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war bereits fünf Uhr dreißig, und es dauerte nicht mehr lange, bis sie wieder aufstehen musste.
Alan traf um acht Uhr ein.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ich bin in Ordnung, und ich habe gerade Kaffee gekocht. Carla schläft oben. Ich hoffe doch, du wirst sie nicht wecken wollen, um mit ihr zu reden? Sie war vollkommen erledigt, als ich sie hergebracht habe.« Markby schüttelte den Kopf, nahm den Kaffeebecher entgegen, den sie ihm angeboten hatte, und sie gingen ins Wohnzimmer.
»Ist das Feuer inzwischen gelöscht?«
»Es war jedenfalls unter Kontrolle, das ist das Letzte, was ich weiß. ›Gelöscht‹ ist ein Wort, das die Feuerwehr nur mit Bedacht benutzt. Sie schätzen, dass sie noch ein paar Tage lang regelmäßig wiederkommen und Wasser auf die Brandstelle spritzen werden. Die Hitze steckt noch im Material, und es kann zu Funken kommen. Neue Feuer können sich spontan entzünden.« Er ließ sich in einem Lehnsessel nieder und streckte mit einem erleichterten Seufzer die Beine aus.
»Also werden die Bewohner der umliegenden Häuser bald wieder zurückkehren können?«
»Nein. Mit Sicherheit nicht vor heute Abend, wahrscheinlich sogar erst morgen Früh. Wegen der unterirdischen Benzintanks, weißt du?« Alan trank von seinem Kaffee. Sein Gesicht zeigte die Anspannung, unter der er stand, und seine Haare waren wirr und ungekämmt. Es bereitete ihr Sorgen, ihn so zu sehen. Sie beugte sich vor und streckte tröstend die Hand nach ihm aus, während sie leise fragte:
»Irgendwelche Neuigkeiten, was Harry Sawyer angeht?«
»Sie haben ihn geborgen, aber er ist bewusstlos und hat eine schlimme Rauchvergiftung. Auch Verbrennungen. Es war offensichtlich schwierig, weil er eine dreiteilige Garnitur in seinem Wohnzimmer hatte, die mit Rosshaar gepolstert war, und Rosshaar verursacht eine Menge Rauch. Sie haben ihn in ein Spezialkrankenhaus gebracht.« Alans Stimme klang immer noch bedrückt.
»Es kann noch Tage dauern, bis wir mit ihm reden dürfen.« Nach einigen Augenblicken des Schweigens sagte Meredith:
»Es kommt mir … merkwürdig vor.«
»Merkwürdige Dinge geschehen nun einmal.« Er schnaubte ärgerlich.
»Aber du hast Recht. Es ist merkwürdig. Letzten Sonntag haben wir seine Werkstatt und seinen Bungalow durchsucht, und am Donnerstag wird … geht der Bungalow in Flammen auf!« Sein kurzes Zögern war ihr nicht entgangen.
»War es ein Unfall, Alan? Irene hat ein Geräusch gehört, keine richtige Explosion, mehr einen Schlag und dann ein Rauschen. Wenn du mich fragst, dann klingt das nicht gerade nach einer gewöhnlichen Gasexplosion.« Er sah ihr in die Augen, dann wich er ihrem Blick aus.
»Die Feuerwehr wird ihre eigenen Ermittler reinschicken, sobald es sicher genug ist. Aber ich habe mich kurz mit dem Einsatzleiter unterhalten können, und seiner Meinung nach handelt es sich ganz klar um Brandstiftung, auch wenn er erst die Ermittlungsergebnisse abwarten muss. Der Brandherd befindet sich in der Nähe der Hintertür. Er glaubt, dass möglicherweise mit Benzin getränkte Lappen vor der Tür aufgeschichtet und dann angezündet wurden, möglicherweise mit einem MolotowCocktail oder etwas Ähnlichem. In der Werkstatt oder in den Mülltonnen gab es wahrscheinlich jede Menge ölgetränkter Lappen, die man ohne Schwierigkeiten dafür hätte nehmen können. Der Bungalow war bereits sehr alt, er stammt aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sämtliche Rahmen sind – waren – aus Holz, genau wie die Türen und das Küchenmobiliar, Tische, Stühle, Schränke und so weiter. Keine feste Einbauküche. Das hat Pearce gesagt. Er hat außerdem gesagt, dass das ganze Haus mit Holzparkett ausgekleidet war und es nur ein paar alte Teppiche gegeben hätte, alles trocken wie Zunder. Was das Feuer angeht, so bestand das ganze Haus im Grunde genommen aus einem einzigen Haufen leicht ent flammbarer Materialien.«
»Hatte er denn keinen Hund?« Meredith runzelte die Stirn.
»Die meisten Leute, deren Geschäft gleich neben dem Haus liegt, würden einen Hund halten.«
»Er hatte einen Hund, aber man hat ihn nicht gefunden. Wir nehmen an, dass er in den Flammen umgekommen ist. Pearce hat ihn letzten Sonntag gesehen. Er war steinalt und taub wie nur irgendwas. Ganz bestimmt nicht mehr als Wachhund tauglich.« Meredith strich sich ungeduldig die Haare aus der Stirn.
»Aber warum? Warum Sawyer? Könnte es Rache gewesen sein? Wenn er mit Penhallow im Streit gelegen hat, dann vielleicht auch mit anderen Leuten. Vielleicht hatte jemand einen Groll auf ihn?«
»Ja, warum ausgerechnet Sawyer. Nachdem du uns gesagt hast, dass er mit Penhallow im Streit gelegen hat, hatten wir Sawyer sogar als einen der Verdächtigen auf unserer Liste stehen. Jetzt sieht alles danach aus, als wäre er ein Opfer. Verdammt, Meredith!« Markby beugte sich unvermittelt in seinem Sessel vor, und in seinem Gesicht stand unverhohlener Ärger.
»Wir haben bereits einen Toten, und um ein Haar hätten wir einen zweiten gehabt! Sawyer ist immer noch nicht außer Lebensgefahr!«
»Es ist ein grauenvoller Gedanke. Ich hoffe und bete, dass er überlebt!«, sagte Meredith leise. Er blickte auf und bemerkte ihren Gesichtsausdruck.
»Was ist los?«
»Ich fühle mich schuldig«, gestand sie.
»Ich habe dir von dem Streit zwischen Harry Sawyer und Andrew Penhallow erzählt, und das ist der Grund, aus dem du sein Anwesen hast durchsuchen lassen. Vielleicht hat diese Aktion etwas mit dem Brand vergangene Nacht zu tun. Selbst wenn es nicht so ist, ich fühle mich irgendwie, als hätte ich persönlich ein Streichholz an Harrys Haus gehalten.«
»Das ist doch absurd!« Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Es gibt nicht den geringsten Grund zu einer Annahme wie dieser! Warum solltest du dich schuldig fühlen? Wahrscheinlich gibt es keinerlei Verbindung zwischen unserer Durchsuchung und dem Feuer, und bevor nicht der Bericht der Brandkommission auf dem Tisch liegt, wissen wir nicht einmal, ob es tatsächlich Brandstiftung war! Vielleicht hat der gute Harry Sawyer im Bett geraucht? Vielleicht hat er ein glimmendes Streichholz oder eine brennende Zigarette in einen Papierkorb geworfen, oder er hat den Kamin über Nacht ohne Aufsicht brennen lassen. Warten wir es ab, bis wir es besser wissen!« Alan erhob sich aus seinem Sessel.
»Du kannst Carla hier bei dir behalten, oder?«
»Sicher. Ich fahre heute nicht zur Arbeit.«
»Gut. Gut. Wir sehen uns später …« Er seufzte.
»Falls ich es nicht schaffe, falls wir uns vorher nicht mehr sehen, rufe ich dich noch an wegen Samstagabend bei Laura. Wir sind zum Essen eingeladen, erinnerst du dich?«
»Gütiger …« Fast hätte sie sich verhaspelt.
»Oh, großartig! Paul ist ein wunderbarer Koch.«
»Das ist er«, stimmte Alan ihr zu.
»Aber es stimmt schon, was du beim ersten Mal sagen wolltest. Ich kann nicht sagen, dass mir nach einem gemütlichen Beisammensein mit der Familie meiner Schwester zumute ist. Sawyer liegt auf der Intensivstation, und ich habe keine Ahnung, was als Nächstes passieren wird. ›Gütiger Gott!‹ ist noch milde ausgedrückt, Meredith. Ich würde einen beträchtlich stärkeren Kraftausdruck verwenden!« Sie sah ihn durch ihr Wohnzimmerfenster davonfahren. Sie war nicht so müde, wie sie eigentlich erwartet hatte, doch wahrscheinlich kam die Erschöpfung erst später. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Einer davon war, wie sie schuldbewusst erkannte, angesichts der äußeren Umstände fast schändlich. Sie dachte nämlich, dass das Feuer und Sawyers Einlieferung auf die Intensivstation fürs Erste sämtliche anderen Ideen aus Alans Kopf vertrieben hatten. Er hatte keine weitere Anspielung auf seinen Heiratsantrag gemacht oder auf ihr Versprechen, ihm diesmal eine Antwort zu geben, eine endgültige Antwort. Sie registrierte erleichtert, dass seine Aufmerk samkeit von anderen Dingen gefangen gehalten wurde.
»Wie selbstsüchtig von mir!«, sinnierte sie laut. Sie schob den Vorhang beiseite, um das Fenster zu öffnen und die morgendliche Luft hereinzulassen. Von der nahe gelegenen Hauptverkehrsstraße drang der Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs herein. Die Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit, die Kinder gingen zur Schule. Bamford war erwacht, und ein neuer geschäftiger Tag war angebrochen. In der Gemeindehalle war Vater Holland wahrscheinlich bereits damit beschäftigt, das Frühstück für seine unerwarteten Gäste zu organisieren. Irene Flack würde ihm tatkräftig zur Hand gehen. Die arme Irene, dachte Meredith. Sie hat wirklich Glück gehabt, so nah, wie ihr Haus bei der Tankstelle steht. Was für ein Stress, was für eine Tragödie für so viele Menschen, dachte Meredith, und ich stehe hier und mache mir Gedanken über mich und was ich Alan sagen werde. Was werde ich Alan sagen?
KAPITEL 16
LUKE KAM um zehn Uhr morgens bei Meredith an. Er sah übernächtigt, müde und zerzaust aus. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Über Nacht hatte er sich in einen Zehnjährigen zurückverwandelt, wenngleich einen zu groß geratenen.
»Möchten Sie duschen?«, fragte Meredith, praktisch wie eh und je.
»Danke, sehr gerne. Es war eine schmutzige Nacht, jedenfalls das, was von ihr übrig war.« Er schnitt eine Grimasse.
»Sämtliche Josses schnarchen, selbst die verdammten Katzen! Kate und ich waren die ganze Zeit auf und haben mit dem Vikar gesprochen. Oder besser, er hat die meiste Zeit geredet, und es gelang mir, hin und wieder etwas zu erwidern. Kate hat nicht viel gesagt. Irene hat in einem Stuhl in der Küche gedöst. Sie sah nicht aus, als wäre es bequem, aber wenigstens hat sie für eine Weile die Augen zugemacht. Wie geht es Mum?« Er legte die Stirn in besorgt fragende Falten.
»Sie schläft noch«, antwortete Meredith.
»Ich denke, es ist besser, sie nicht zu wecken. Haben Sie schon etwas gefrühstückt?«
»Der Vikar hat gebackene Bohnen und Dosenwürstchen organisiert, und eine Bäckerei in der Nähe hat Brötchen geschickt. Irene hat wieder Tee für alle gemacht. Es war fast wie im Pfadfinderlager.« Er lächelte leicht, doch dann schüttelte er den Kopf.
»Aber, um den Vikar zu zitieren, das Leben besteht nicht nur aus Vergnügen! Damit meinte er die Josses, die laut beim Essen schmatzten, und ihre Katzen, die über die Möbel in der Gemeindehalle tobten wie gefangene Raubtiere, weil sie nach draußen wollten. Die alte Frau Joss wollte es unter keinen Umständen, sie hat Angst, sie könnten weglaufen. Der Vikar ist wirklich ein praktischer Bursche, das muss man ihm lassen. Er brachte einen Mülleimerdeckel für die Zimmertiger und fand eine diskrete Ecke, wo sie ihr Geschäft erledigen konnten, ohne dass der Anblick oder der Gestank uns andere belästigt. Eins kann ich Ihnen sagen, Meredith, es ist kein schöner Anblick in der Halle!« Meredith war froh, dass ihr dies alles erspart geblieben war.
»Gibt es schon Neuigkeiten, wann Sie nach Tudor Lodge zurückkehren können?«
»Nicht vor heute Abend. Vielleicht, wenn es Schwierigkeiten an der Brandstelle gibt, auch erst morgen Früh. Würden Sie Mum, falls nötig, noch eine weitere Nacht bei sich aufnehmen, Meredith? Ich kann mit Kate im Crown Hotel schlafen, aber ich denke, Mum wäre besser bei Ihnen untergebracht, ohne diesen ganzen Ärger, wenn Sie verstehen, was ich meine? Kate steht kurz vor dem Explodieren in der Halle, und ich dachte schon, sie würde Dan Joss eine Ohrfeige verpassen. Er saß dort und kratzte sich seinen Bierbauch und steckte sich dann einen stinkenden Stumpen an. Sie hat ihm gehörig die Meinung gestoßen. Das Crown hat ihr nicht gefallen, als sie allein dort war, aber ich denke, im Augenblick würde sie lieber wieder im Hotel wohnen als in der Halle. Ganz ehrlich, dieses Feuer ist das letzte Quäntchen, das noch gefehlt hat, um das Fass zum Überlaufen zu bringen!« Meredith fragte sich, ob sie ihm erzählen sollte, dass die Möglichkeit von Brandstiftung bestand. Doch sie entschied sich dagegen. Luke hatte eine Frage.
»Haben Sie schon etwas Neues von Harry Sawyer gehört?« Er verzog das schmutzige Gesicht.
»Die arme Irene macht sich die größten Sorgen seinetwegen. Sie und Harry sind seit Jahren Nachbarn, und er hat ihren alten Wagen immer wieder repariert, ohne etwas dafür zu verlangen.« Meredith konnte ihm nur ein wenig weiterhelfen.
»Er wurde lebend gerettet. Alan war vorhin hier und hat mir erzählt, dass man ihn in eine Spezialklinik gebracht hat und er dort auf der Intensivstation liegt. Er war bewusstlos, als man ihn fand, und er wird noch tagelang nicht vernehmungsfähig sein. Das ist leider alles, was ich weiß.« Luke starrte auf seine Hände.
»Wird der arme Kerl sterben?«
»Das kann ich nicht sagen, Luke. Ich glaube, das kann noch keiner mit Bestimmtheit sagen, nicht einmal die Ärzte im Krankenhaus. Er hat sicherlich einen Schock erlitten. Er hat eine Menge Körperflüssigkeit verloren und eine Rauchvergiftung. Und Verbrennungen. Es steht nicht gut um ihn. Er ist kein junger Mann mehr.«
»Es ist wirklich merkwürdig«, sinnierte er, indem er ihre Worte gegenüber Alan wiederholte.
»Als wäre Tudor Lodge plötzlich verhext. Zuerst Dad, dann Kate, die sich als seine Tochter zu erkennen gibt, und jetzt Harrys Bungalow. Ein Unglück kommt selten allein, so lautet doch das alte Sprichwort, oder?«
»Haben Sie irgendetwas gehört, Luke?«, fragte Meredith neugierig.
»Vor dem Ausbruch des Feuers, meine ich?« Er blickte sie scharf an, und für einen Augenblick schien er überrascht, doch dann wich die Überraschung Misstrauen.
»Was meinen Sie damit? Was soll ich gehört haben?«
»Irene Flack hat einen dumpfen Schlag gehört, eine Art gedämpfte Explosion, sie weiß nicht recht, wie sie es ausdrücken soll, gefolgt von einem Rauschen, wie sie es beschreibt. Wie Feuerwerksraketen, die in den Himmel schießen.«
»Oh, hat sie das …?« Luke lehnte sich zurück, und für einen Augenblick wirkte er fast erleichtert, oder wenigstens bildete sich Meredith das ein.
»Nein, ich habe nichts dergleichen gehört. Das Feuer war schon im Gang, als ich es bemerkt habe. Das Licht in meinem Zimmer hat mich geweckt, glaube ich. Ich wusste im ersten Augenblick nicht, wo ich war. Ich lag wach und zugleich in einem schlimmen Traum gefangen, mit all dem roten Funkeln und dem lauten Prasseln und Knistern.« Meredith biss sich auf die Unterlippe, während sie überlegte, ob es der Mühe wert war, Luke im Augenblick noch weitere Fragen zu stellen. Sie entschied sich dagegen.
»Gehen Sie jetzt duschen, Luke. Ich glaube nicht, dass Ihre Mutter davon wach wird. Ich brühe inzwischen einen frischen Kaffee auf.« Zwanzig Minuten später kam er von oben zurück, das Gesicht rot, die Haare nass und zerzaust, doch er wirkte erfrischt. Er setzte sich an den Tisch und räumte auf Merediths Frage hin ein, dass der Hunger zurückgekehrt war. Meredith machte Würstchen heiß, dazu gab es Tomaten und Eier.
»Sie können ruhig hier unten schlafen«, sagte sie, während er mit Appetit aß.
»Kate ebenfalls, sofern sie möchte, heißt das. Obwohl ich offen gestanden keinen Grund sehe, warum Kate nicht zurück ins Hotel gehen sollte, insbesondere, wenn sie so begierig darauf ist, wie Sie sagen. Meiner Meinung nach hätte sie von Anfang an dort bleiben sollen. Ich hätte sie nicht nach Tudor Lodge eingeladen.« Luke schluckte den Mund leer.
»Es war ziemlich beengt, mit ihr im Haus. Wir konnten uns nicht bewegen, wie wir wollten. Eine peinliche Situation.« Er sah Meredith nachdenklich an.
»Diese ganze Sache ist von vorn bis hinten eine überraschend peinliche Geschichte, Meredith. Ich bin gestern in Cambridge gewesen. Alle waren freundlich zu mir, einige waren verstohlen neugierig, andere richtig aufdringlich, aber den meisten war alles einfach nur peinlich.« Er sah ihr über den Tisch hinweg direkt in die Augen.
»Sie hatten schon früher mit Mord zu tun, nicht wahr?«
»Ja, das hatte ich«, gestand Meredith.
»Obwohl mich das noch lange nicht zu einer Expertin macht, und ich würde es hassen, wenn Sie mich dafür hielten, Luke. Ich würde mich hassen, wenn ich es wäre.« Sie dachte an Gerald.
»Ich habe einen Kollegen im Büro, der sich darüber lustig macht. Er meint, dass immer wieder so etwas geschehen würde, wenn ich in der Nähe wäre. Es klang, als wäre ich eine Unglücksbotin.« Luke schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist es nicht, Meredith. Es liegt daran, dass Sie nicht unbeteiligt an der Seite stehen. Sie packen mit an.«
»Ich mische mich ein?«, fragte sie ironisch.
»Nein, ganz und gar nicht! Nicht einmischen!« Er sah sie schockiert an.
»Es gibt Leute, die machen alles, nur um in nichts hineingezogen zu werden, das Unannehmlichkeiten mit sich bringen könnte. Selbst wenn sich ein Unglück direkt vor ihren Augen abspielt. Sie aber haben keine Angst vor Unannehmlichkeiten. Das findet man selten. Ich bewundere Sie dafür.« Er zögerte.
»Bevor das alles geschehen ist, hätte ich von mir auch behauptet, dass ich keine Angst habe, mich den unangenehmeren Seiten des Lebens zu stellen. Aber das dachte ich nur, weil ich nie wirklich unangenehme Seiten kennen gelernt habe. Es tatsächlich zu tun ist eine ganz andere Sache und viel schwerer. Ich schätze, keiner von uns weiß, wie wir in einer wirklich schwierigen Situation reagieren, bevor wir nicht mit ihr konfrontiert werden. Ich habe herausgefunden, dass ich längst nicht so hart bin, wie ich dachte. Ich glaube nicht, dass ich so hart bin wie Sie …« Er brach ab und entschuldigte sich hastig.
»Ich meine damit nicht, dass Sie ein hartherziger Mensch wären, Meredith, ganz im Gegenteil! Sie sind stark. Das meine ich. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe ge treten bin!« Er sah sie so besorgt an, er könnte in ein Fettnäpfchen getreten sein, dass Meredith unwillkürlich grinsen musste.
»Danke. Ich bin überzeugt, es war als Kompliment gemeint. Natürlich sind Sie mir nicht zu nahe getreten, Luke. Ich weiß genau, was Sie sagen wollten, und ich weiß, wie unangenehm ein Mord für alle Beteiligten ist. Die Nachwirkungen sind nicht so, wie man es sich vielleicht vorstellt. Auf vielerlei Weise viel schlimmer, und es kommt stets völlig überraschend. Machen Sie sich keine Vorwürfe, wenn Sie glauben, es wäre zu viel für Sie. Wir sprechen hier von einem Toten, und in diesem Fall ist es auch noch Ihr Vater; das macht alles sehr viel schlimmer. Und weil er gewaltsam gestorben ist, funktionieren unsere normalen Mechanismen nicht. Wir stolpern unsicher umher und wissen nicht recht, wie wir uns verhalten sollen. Was ich damit sagen möchte, Mord liegt außerhalb der Erfahrungen der meisten Menschen, und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Und sie haben Angst. Irgendwo in ihrer Gemeinde ist ein Mörder unterwegs. Sie fangen an, Nachbarn und Freunde und ihre Stadt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Was die Familie des Opfers angeht, so weiß niemand, was er sagen soll. Nichts ist ange messen.« Luke spießte das letzte Stück Würstchen auf seine Gabel.
»Das ist es, ganz genau! Kommt es je wieder in Ordnung? Ich meine, nach Ihren Erfahrungen in diesen Dingen … kehrt je wieder so etwas wie Normalität ein, wenn alles aufgeklärt und der Mörder hinter Gittern ist?« Meredith dachte lange nach, bevor sie antwortete.
»Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage mit einem deutlichen Ja beantworten, Luke, doch das kann ich nicht. Nicht wirklich, nein. Oberflächlich betrachtet, vielleicht. Doch ansonsten ist es wie bei jeder anderen Erfahrung auch, sei sie gut oder schlecht, sie bleibt im Gedächtnis haften. Man muss nur den richtigen Knopf drücken, das richtige Stichwort liefern, und alles ist wieder ganz frisch in Erinnerung.«
»Ich mache mir Sorgen wegen Mum«, sagte Luke und blickte zur Decke hinauf, in Richtung des Zimmers, wo seine Mutter schlief.
»Ihre Mutter ist eine starke Frau, Luke«, sagte Meredith.
»Sie braucht Unterstützung, doch sie wird nicht zerbrechen. Sie wird damit zurechtkommen, früher oder später wird sie damit zurechtkommen.«
Als Carla zur Mittagszeit nach unten kam, war Luke wieder gegangen, um für Kate und sich je ein Zimmer im Crown zu mieten.
»Ich bin froh, dass er sich gemeldet hat«, sagte Carla.
»Und danke, dass er bei dir duschen durfte und dass du ihm etwas zu essen gemacht hast.«
»Ich mache mir viel mehr Sorgen über deine Essensgewohnheiten, Carla. Du musst etwas zu dir nehmen. Wir können gerne ausgehen und irgendwo draußen essen, oder ich bereite hier im Haus etwas Einfaches zu. Ich bin freilich keine gute Köchin.« Meredith schnitt eine Grimasse.
»Außerdem hat Luke alle Würstchen gegessen. Ich habe noch Tiefkühlpizza, Tunfisch in Dosen, Dosensuppe und ein paar Sachen für Salat.« Sie stand auf und kramte in ihren Schränken.
»Oh, und ein paar Nudeln und ein Glas Pesto.«
Zu ihrer Überraschung lachte Carla. Es fing als leises Kichern an und entwickelte sich zu einem vollen, lauten, amüsierten Lachen.
Als sie Merediths erschrockenen Blick bemerkte, wurde sie schnell wieder ernst.
»Tut mir Leid. Ich bin nicht hysterisch, keine Sorge. Ich falle nicht aus der Rolle, wenn ich unter Stress stehe. Es ist einfach nur, du hast geredet wie ich. Ich meine, deine Küche ist wie meine. Ich habe seit Jahren nicht mehr richtig gekocht. Früher einmal war ich ziemlich geschickt, weißt du? Als wir frisch verheiratet waren, konnte ich eine wirklich gute Lasagne und ein schmackhaftes Curry zubereiten. Es ist nur so, je mehr Zeit verging, desto weniger Zeit hatte ich für diese Dinge, und … na ja, es gab Interessanteres für mich zu tun.« Sie stockte.
»Ich meine, ich habe Karriere gemacht. Die Knoblauchpresse gegen ein Fax getauscht, wenn du so willst.«
»Klingt nachvollziehbar, wenn du mich fragst«, sagte Meredith. Carla stemmte ihre Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vertraulich vor.
»Ich werde mich in Zukunft wieder mehr anstrengen. Sobald wir wieder im Haus sind, werde ich etwas für die Kinder kochen. Eine Art Willkommensmahl. Willkommen zu Hause.«
»Luke wird sich bestimmt darüber freuen, aber rechne lieber nicht mit Kates Dankbarkeit«, warnte Meredith.
»Wirst du Kate wieder nach Tudor Lodge mitnehmen? Luke und Kate sind zurzeit im Crown, und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich die junge Frau diesmal auch dort lassen. Tudor Lodge ist nicht ihr Zuhause, auch wenn ich sicher bin, dass sie es gerne dazu machen würde. Es ist unfair Luke gegenüber, sie einfach so aufzunehmen. Sie ist schließlich kein armes herrenloses Kätzchen. Sie ist eine mit allen Wassern gewaschene, zähe junge Frau, das ist jedenfalls meine Meinung. Sie hatte in der Gemeindehalle eine Auseinandersetzung mit Dan Joss, wie Luke erzählt, und Joss hat definitiv den Kürzeren gezogen.« Carla lehnte sich zurück und sah Meredith halsstarrig an.
»Natürlich ist es nicht fair! Es ist nicht fair gegenüber Luke, und es ist nicht fair mir gegenüber – aber wann war das Leben schon jemals fair? Es war nicht fair von Andrew, uns diese Hinterlassenschaft aufzubürden, und er hat es trotzdem getan. Mir bleibt nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren, und das gilt genauso für Luke, so Leid er mir tut. Aber die Jungen gewöhnen sich schnell an eine neue Situation. Vielleicht kommen er und Kate besser miteinander zurecht, nachdem sie zuerst in die Gemeindehalle evakuiert wurden und jetzt im Hotel schlafen müssen.« Meredith hielt es für eher unwahrscheinlich. Doch es war nicht weiter überraschend, dass Carla hartnäckig bei ihrer Entscheidung blieb. Sie hatte einen Entschluss gefasst, und damit basta.
»Lasagne«, sagte Carla in diesem Augenblick, während ihre Gedanken vorauseilten.
»Andrew hat vor Weihnachten ein paar Flaschen wirklich ausgezeichneten Rotwein aus Frankreich mitgebracht, und wir haben noch nicht alles getrunken. Ich mache eine Lasagne, und dazu trinken wir Rotwein. Am Samstagabend. Habt ihr, du und Alan Zeit?«
»Ich fürchte nein, trotzdem danke für die Einladung. Aber wir sind bereits mit Alans Schwester zum Essen verabredet.«
»O ja, ihr Ehemann ist ein professioneller Küchenchef, nicht wahr?«
»Er schreibt Kochbücher. Er ist zwar kein richtiger Küchenchef, doch er ist ein erstklassiger Koch, daran besteht kein Zweifel!«
»Wie nützlich«, sagte Carla nachdenklich,
»mit einem Mann verheiratet zu sein, der kochen kann.«
Wie sich herausstellte, durften die Evakuierten erst am Samstagmorgen in ihre Häuser zurück. Luke kam seine Mutter abholen, und Meredith hatte ihr Heim endlich wieder für sich alleine. Sie war froh gewesen, Carla Unterkunft anbieten zu können, doch sie war nun genauso froh, endlich wieder freie Hand zu haben, weil es etwas gab, das sie erledigen musste. Sie musste zur Brandstelle fahren, und zwar dringend, bevor sie sich am Abend mit Alan traf.
Es wäre zu offensichtlich gewesen, den Evakuierten gleich am Morgen auf ihrem Weg in ihre Häuser zu folgen, mehr noch, die Feuerwehr war aller Wahrscheinlichkeit nach noch vor Ort. Trotz ihrer Ungeduld wartete Meredith bis zum Nachmittag, bevor sie sich auf den Weg machte.
Weil sie sich nicht durch ihren Wagen verraten wollte, ging sie zu Fuß. Es war ein weiter Weg von der Station Road aus, wo sie wohnte, doch der Nachmittag war angenehm, und sie hatte die Bewegung nötig.
Als sie sich dem Stadtrand näherte, wo die Tankstelle lag, ließ der Gestank nach verbranntem, nassem Holz und geschmolzenem Plastik ihre Nasenflügel beben. Der Vorplatz mit den Zapfsäulen war überzogen mit einer Schicht aus getrocknetem Schaum. Die Stelle, wo der Bungalow gestanden hatte, war abgesperrt, und man hatte ein Warnschild aufgestellt mit der Aufschrift
»Zutritt für Unbefugte verboten«.
Die Wände des Bungalows standen noch, doch die Fenster waren leere, klaffende Löcher, und das Dach war eingestürzt. Die Dachbalken bildeten ein schwarzes, verkohltes Skelett. Meredith duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Überall standen Wasserpfützen, und ein schwarzer öliger Film bedeckte die Brandstätte. Selbst nach achtundvierzig Stunden waren die Steine noch heiß. Die Wärme drang durch Merediths Schuhsohlen. Die Luft ähnelte der Atmosphäre in einem Dampfbad. Von Zeit zu Zeit knackte es bedrohlich in der Ruine, als wäre das Feuer noch irgendwo am Leben und kämpfte darum, wieder zu voller Macht zu erwachen. Vorsichtig bahnte sich Meredith einen Weg zwischen Trümmern hindurch und stellte schließlich fest, dass sie – genau wie sie gehofft hatte – nicht allein war.
Ein Junge von vielleicht dreizehn Jahren stocherte mit einem Stock in den Trümmern herum. Er war so vertieft in sein Tun, dass er Meredith nicht kommen hörte. Sie kannte inzwischen seinen Namen, von jener Begegnung in der Gemeindehalle in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, und rief ihn nun laut.
»Sammy!« Er zuckte zusammen und wirbelte herum. Dabei rutschte er
auf einem nassen Balken aus. Als er Meredith sah, sah es zunächst aus, als wollte er flüchten, doch dann änderte er seine Meinung und blieb trotzig stehen.
»Sammy Joss«, sagte Meredith.
»Du bist der Sohn von Dan
Joss, richtig?«
»Und wenn es so wäre?«, entgegnete er.
»Du solltest lieber vorsichtig sein hier drin, Sammy. Die
Ruinen sind nicht sicher.«
»Und was machen Sie dann hier?«, gab er zurück, während er sich vorsichtig von Meredith wegschob.
»Ich bin hergekommen, weil ich dich gesucht habe. Aber du bist sicherlich nicht überrascht, das zu hören, oder, Sammy?«
»Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden.« Sammys Blick wanderte zur Seite, zu den Reihencottages hinüber, wo er wohnte. Er schien zu überlegen, wie lange es dauerte, dorthin zu flüchten, und ob Meredith eine Chance hätte, ihn unterwegs einzufangen, bevor er in Sicherheit wäre.
»Ich denke, wir sollten uns unterhalten, Sammy. Keine Panik, ja? Ich habe nicht vor, dich zu überreden, dass du dich der Polizei stellst.« Er entspannte sich, doch dann keimte neues Misstrauen in seinen Augen auf.
»Was habe ich mit der Polizei zu tun?«
»Komm schon, Sammy«, sagte Meredith mit scharfer Stimme.
»Du hast versucht, in meine Küche einzubrechen, und ich glaube, du bist der Junge, der die Geldbörse meiner Nachbarin gestohlen hat.«
»Sie sind ja verrückt, echt! Sie wissen ja gar nicht, was Sie reden! Ich hab überhaupt nix getan, und Sie können überhaupt nix beweisen!« Offensichtlich war Sammy der Meinung, Ag gression wäre die beste Form der Verteidigung.
»Das muss ich auch nicht, Sammy. Ich muss der Polizei lediglich sagen, dass ich glaube, du wärst es gewesen, und schon kommt sie zu dir nach Hause und stellt dir eine Menge Fragen. Ich glaube nicht, dass dein Vater oder sonst jemand von deiner Familie glücklich wäre darüber.« Es war ein Schuss ins Blaue, doch ein kurzer Blick auf den massigen Joss hatte Meredith erkennen lassen, was für eine Sorte Mann er war.
»Hast du früher schon mal Ärger gehabt, Sammy?«, fragte sie.
»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten!«, brüllte er sie an.
»Und du pass besser auf, wie du mit mir sprichst, Sammy!«, giftete sie im gleichen Tonfall zurück.
»Ich habe dir gesagt, ich möchte mit dir reden, und es wäre sicher besser für dich, wenn du mit mir sprichst als mit der Polizei, oder?« Sammy dachte über Merediths Worte nach. Er rieb sich über das Gesicht, und seine Finger hinterließen rußige Spuren. Dann blinzelte er sie an.
»Also gut, meinetwegen. Was wollen Sie von mir?« Merediths Blick wanderte über das freie Stück Land hinweg zu den Feldern dahinter. Sie waren von Bäumen gesäumt; ein Stamm war umgefallen oder gefällt worden, und man hatte ihn liegen lassen.
»Wir können dort rübergehen und uns auf den Stamm setzen«, schlug Meredith vor.
»Besser, als hier herumzustehen. Und sicherer.« Er folgte ihr unwillig durch die feuchte, schwarze Masse der Ruine und das Land dahinter bis zu den Bäumen. Meredith breitete ein Taschentuch auf dem schmutzigen Stamm aus und setzte sich darauf. Sie strich mit den Fingern über die Rinde, und als sie sie zurückzog, waren die Spitzen schwarz von Ruß und Asche, die vom Wind hierher geweht worden waren. Sammy sprang wie ein Sportler auf den Stamm hinauf und balancierte zum anderen Ende, wo er eine Hand nach oben streckte und den überhängenden Ast der benachbarten Eiche packte. Falls nötig, konnte er sich wie Tarzan am Ast nach oben schwingen und wäre innerhalb von zwei Sekunden aus Merediths Reichweite.
»Wonach hast du dort drüben in der Ruine gesucht?«, fragte Meredith im Unterhaltungston.
»Keine Ahnung, überhaupt nichts. Ich hab seinen Hund gefunden.« Die letzte Information kam nicht ohne Stolz über seine Lippen.
»Sawyers Hund?«, fragte Meredith verblüfft.
»Er ist tot, ganz verbrannt. Sind nur noch die Knochen übrig und schwarze Klumpen, ganz verschrumpelt.« Sammy beschrieb seinen Fund mit einiger Wonne.
»Ich dachte, ich nehm den Schädel mit nach Hause und mache ihn sauber. Ich könnte ihn in mein Zimmer stellen.« Nettes Kind, dachte Meredith. Sie achtete darauf, ihren Konversationston beizubehalten. Es wäre leicht, ihn zu erschrecken, und dann würde er flüchten. Er vertraute ihr nicht, und sie erwartete auch nichts anderes, doch solange er sie nicht als unmittelbare Bedrohung betrachtete, würde er vielleicht mit ihr reden.
»Du hast vermutlich alles über den Mord auf Tudor Lodge gehört, oder?«
»Ja, sicher. Aufregend.«
»Ich interessiere mich dafür. Wir könnten uns darüber unterhalten.« Sammys Finger spannten sich um den Ast über seinem Kopf.
»Ich hab nix damit zu tun!«
»Das sage ich doch gar nicht, Sammy. Aber Mrs Penhallow ist eine Freundin von mir.«
»Ach, echt?« Er war abgelenkt, denn er griff in den Baum über sich und versuchte etwas loszuschütteln.
»Ich hab ein Vogelnest gefunden!«
»Dann hör doch auf zu schütteln!«, rief Meredith ärgerlich, außer Stande, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Es fällt sonst runter!«
»Ist nur ein altes, vom letzten Jahr. Die Vögel haben dieses Jahr noch kaum angefangen mit ihren neuen Nestern. Sind spät dran, verstehen Sie? Alles ist spät dran. War lange kalt.« Er starrte sie an, als wäre ihre Dummheit skandalös. Meredith vermutete, dass Sammy in der Schule wahrscheinlich als unterdurchschnittlich begabt galt und in den Förderunterricht ging. Doch er war ein Landjunge, und seine Kenntnisse der Welt ringsum waren ohne jeden Zweifel beträchtlich. Vor einer Reihe von Jahren hätten die Sammys dieser Welt jederzeit Arbeit als Wildhüter, Stallburschen, Farmhelfer oder Waldarbeiter gefunden. Doch die Jobs auf dem Land waren immer weniger geworden, und die moderne, technisierte Welt bot nichts, das diese Jobs ersetzt hätte. Meredith fragte sich, ob Sammy jemals eine
»richtige Arbeit« finden würde, wie die Gesellschaft sie definierte, oder ob er zu einem Leben von der Sozialhilfe verdammt war, ergänzt durch Gelegenheitskriminalität.
»Was machst du abends so, Sammy?«
»Fernsehen. Oder ich geh über die Felder spazieren …«Er nickte in Richtung der Landschaft hinter ihm.
»Auch wenn es dunkel ist?«
»Manchmal.« Er löste den Griff um den Ast, ließ sich in die Hocke sinken und setzte sich dann ganz auf den Stamm, um die Beine baumeln zu lassen. Seine Jeans und seine Schuhe waren verdreckt von seiner Suche im Bungalow. Meredith fragte sich, was seine Mutter denken mochte, oder ob sie den Zustand, in dem er nach Hause kam, als normal hinnahm und die Sachen einschließlich der Turnschuhe in die Waschmaschine stopfte.
»Es gibt einen Weg über die Mauer in den Garten von Tudor Lodge«, sagte Meredith.
»Man kann über die Äste eines Baums klettern. Ich hab es selbst getan, ich bin auf diese Weise aus dem Garten nach draußen geklettert.« Sammy beäugte sie interessiert in dem unverhohlenen Bemühen, ihre sportlichen Fähigkeiten abzuschätzen. Anscheinend war sie soeben ein Stück in seiner Achtung gestiegen.
»Warst du schon mal nachts im Garten von Tudor Lodge?«, lautete ihre nächste Frage. Diesmal nahm sich Sammy Zeit zum Überlegen, bevor er die Frage beantwortete. Meredith fürchtete bereits, dass er es abstreiten könnte, doch schließlich nickte er.
»Ja, war ich. Manchmal hab ich mich hinter den Büschen versteckt und sie durch die Fenster beobachtet. Die Penhallows haben mich nie entdeckt.« So viel zu dem puritanischen Gespenst, das Mrs Flack einen Schrecken eingejagt hatte. Keine Geister, sondern Sammy Joss, der hinter den Büschen stand und die fremde Welt und den Lebensstil der Penhallows studierte. Wer kann ihm schon einen Vorwurf daraus machen?, dachte Meredith mitfühlend. Das Leben hinter den Fenstern von Tudor Lodge war etwas, das er höchstens aus den gehobenen Soap Operas im Fernsehen kannte. Natürlich war es auch möglich, dass sein Spionieren nicht ganz so unschuldig gewesen war, wie er Meredith glauben machen wollte. In einem so großen Haus gab es jede Menge stehlenswerter Dinge, doch wie Mrs Crouch zuvor fragte sich auch Meredith, wo und wie Sammy seltene Wertgegenstände zu Geld machen wollte. Sie beugte sich vor.
»Hör zu, Sammy, das ist jetzt wichtig. Sag nicht einfach nein, wenn du da gewesen bist, dafür ist es viel zu wichtig. Warst du in der Nacht im Garten von Tudor Lodge, als Mr Penhallow starb?« Sie sah, dass er im Begriff war aufzuspringen und zu flüchten, deshalb fügte Meredith hastig hinzu:
»Ich weiß, dass du nichts mit seinem Tod zu tun hast, Sammy, aber warst du dort?« Sammy schwieg mehrere Minuten. Dann begann er vorsichtig:
»Ich habe nie versucht, in Ihre Küche einzusteigen, und ich hab auch nicht die Geldbörse von der alten Frau geklaut, richtig?«
»Wenn du es sagst, Sammy.«
»Dann war ich dort. Aber ich hab keinen Mord gesehen.« Sammy klang fast bedauernd. Ein Hundeschädel war sicherlich eine schicke Trophäe, aber einen richtigen Mord zu beobachten wäre ein seltener Coup gewesen. War es das Fernsehen, oder waren es hässliche Videos, die Sammys Sensibilität verstümmelt hatten, oder ließ ihn der Tod einfach kalt? Lebte er in der alten Tradition der Landbewohner, dass die Natur kein Erbarmen kannte? Meredith wusste es nicht.
»Was hast du gesehen?«, fragte sie.
»Überhaupt nichts. Ich hatte keine Chance, etwas zu sehen, weil er da war.« Merediths Nackenhaare richteten sich auf.
»Wer war da, Sammy?«
»Er natürlich.« Sammy deutete auf die ausgebrannte Ruine des Bungalows.
»Der alte Harry. Er schnüffelte im Garten rum, und ich wäre fast in ihn reingerannt. Er muss über die Mauer geklettert sein wie ich. Es war dunkel, und zuerst hab ich ihn nicht mal gesehen. Dann war ich fast in ihn gerannt. Aber er hat mich nicht bemerkt. Er war zu beschäftigt damit, dieses Mädchen zu beobachten.« Sammy stocherte in der Rinde des Baums und fand einen Käfer darunter. Er hob ihn vorsichtig auf und balancierte ihn auf der Handfläche. Bitte, flehte Meredith. Bitte, lieber Gott, gib, dass er weiterredet. Gib, dass er sich nicht in Schweigen hüllt. Die Gefahr bestand durchaus. Sammy Joss wurde sichtlich nervös.
»Was hat das Mädchen gemacht, Sammy?«, fragte sie.
»Hast du es gekannt?«
»Damals nicht, nein. Aber hinterher. Sie war in der Gemeindehalle. Sie war bei den Penhallows. Ich hab gehört, wie sie ›Kate‹ zu ihr gesagt haben.« Sammy runzelte die Stirn.
»Kam mir eigenartig vor. Wenn sie die Penhallows kannte, warum stand sie dann am Fenster und hat sie heimlich beobachtet? Warum hat sie das getan?« Er hielt Meredith den Käfer hin, damit sie ihn in Augenschein nehmen konnte. Es war ein grauenhaftes Ding, und als Sammy es mit dem Finger schubste, hob es drohend den Hinterleib wie ein winziger Skorpion.
»Das ist ein Teufelskutschenpferd, sagt meine Oma. Guter Name, wie? Haben Sie ’ne Streichholzschachtel?« Als Meredith den Kopf schüttelte, setzte Sammy den Käfer zurück auf die Borke, und er krabbelte hastig davon.
»Als du das Mädchen gesehen hast, Sammy, hat es durch das Fenster ins Haus gespäht?«
»Ja. In die Küche. Hat jemanden drinnen beobachtet. Und der alte Harry hat das Mädchen beobachtet.«
»Und dann?« Meredith hielt den Atem an. Die Enttäuschung folgte auf den Fuß.
»Ich hab mich verpisst. Ich wollte nicht, dass der alte Harry mich erwischt. Er mag mich nicht. Er ist ein elender alter Mistkerl, der alte Harry. Er meint, ich würde ständig bei seiner Tankstelle rumhängen und nur darauf warten, dass ich was klauen kann. Deswegen bin ich wieder über die Mauer und aus dem Garten, als ich ihn gesehen hab. Mehr weiß ich nicht.« Er starrte Meredith mit unverhohlener Neugier an.
»Hey, glauben Sie, das Mädchen hat es getan?«
»Niemand weiß, wer Mr Penhallow ermordet hat, Sammy«, antwortete Meredith.
»Ich schätze, sie war’s«, sagte Sammy.
»Sie ist wahnsinnig jähzornig, wissen Sie? Sie ist auf meinen Dad losgegangen, in der Gemeindehalle, nur weil er sich einen Stumpen anstecken wollte. Mein Dad sagt, der Mann tut ihm jetzt schon Leid, der sich mal mit ihr einlässt. Sie ist richtig irre im Kopf, sagt mein Dad.« Sammy glitt vom Baumstamm und landete breitbeinig auf dem Boden.
»Ich weiß sonst nix mehr. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Sie gehen nicht zur Polizei, das haben Sie versprochen!«
»Ich muss der Polizei sagen, dass du Harry in dieser Nacht gesehen hast, Sammy.« Er runzelte die Stirn, dann zuckte er die Schultern.
»Meinetwegen. Macht für mich keinen Unterschied. Aber Sie erzählen der Polizei nicht die Sache mit der Geldbörse oder dass ich in Ihrer Küche war? Nicht, dass ich das gewesen wäre!«, fügte er hastig hinzu.
»Ich werde der Polizei nichts davon sagen. Aber du versprichst mir, dass du keine alten Menschen mehr bestiehlst, Sammy, einverstanden? Meine Nachbarin hat nur eine magere Pension, und es hat ihr wirklich sehr wehgetan, ihr Geld zu verlieren, ganz gleich, wie wenig es gewesen sein mag. Du würdest es auch nicht mögen, wenn jemand Geld von deiner Großmutter stiehlt, oder?« Sammy blickte mürrisch drein.
»Ich hätt’s ja nicht genommen, wenn sie es nicht offen auf ihrem Einkaufswagen liegen gelassen hätte. Es war nichts mehr drin außer ein paar Münzen und einem Büchereiausweis, und ich les keine Bücher. Ja, ja, schon gut, Sie müssen nicht gleich stöhnen! Ich mach’s nicht wieder. Vorausgesetzt«, fügte er raffiniert hinzu,
»vorausgesetzt, Sie verpetzen mich nicht bei der Polizei. Sie haben’s versprochen!«
»Ja, Sammy. Das habe ich.« Niemand konnte vorhersagen, ob Sammy seinen Teil der Abmachung einhalten würde. Trotzdem, vielleicht würde er es versuchen, und das war das Beste, was man sich erhoffen durfte. Sammy betrachtete die Angelegenheit als beendet, und in der Art seiner fahrenden Vorfahren wollte er nun die Abmachung in einer sichtbaren Form besiegeln.
»Wollen Sie einen Knochen von Harrys Hund?«, bot er Meredith großzügig an.
»Ich behalte den Schädel für mich, aber Sie können jeden anderen Knochen haben. Sie können den Schwanz haben, wenn Sie wollen.«
»Danke, Sammy«, antwortete Meredith.
»Aber du kannst alles behalten.«
KAPITEL 17
MEREDITH HATTE die Einladung bei Alans Schwester nicht vergessen. Obwohl ihr erster Impuls war, Alan anzurufen und ihm zu erzählen, was sie herausgefunden hatte, war einige Zeit seit ihrem Gespräch mit Sammy Joss vergangen, und Alan würde in weniger als einer Stunde vorbeikommen, um sie abzuholen. Sie stank am ganzen Leib nach der Brandstelle. Sie musste duschen und sich in einen präsentablen Zustand bringen. Laura war immer schick angezogen. Meredith wollte nicht hinter ihr zurückstehen oder den Eindruck erwecken, als hätte sie keine Anstren gungen unternommen. Es fiel ihr nicht leicht, sich aufzubrezeln. Meredith war nie ein Modepüppchen gewesen. Es lag nicht daran, dass sie nicht groß genug gewesen wäre – sämtliche Supermodels waren groß, über einsfünfundsiebzig, wie Meredith auch. Es lag nicht daran, dass sie von Natur aus unordentlich oder gar schlampig gewesen wäre. Wenn überhaupt, dann besaß sie einen Hang zur Überorganisation. Selbst mit der Hypothek für das Haus litt sie nicht unter Geldmangel. Der Grund war ganz einfach die physische und psychische Qual, die mit dem Einkaufen neuer Kleider einherging. Es gab so viel am Einkaufen, das ihr nicht behagte, dass es ihr schwer fiel zu sehen, wie sie dieses Problem jemals bewältigen sollte. Das ging bereits los mit der Neonbeleuchtung in den Läden, die ihr stets eine aschgraue Gesichtsfarbe verlieh, Ringe unter ihren Augen erzeugte und jedem Versuch, sich zurechtzumachen, einen Hauch von Halloween verlieh. Es wurde mit jedem Anprobieren schlimmer, bis ihre Haare wirr, ihr Make-up verschmiert und ihre Laune auf dem Nullpunkt wa ren. Und jedes Mal nach dem Stöbern in unzähligen Auslagen voll Kleidung gelangte sie zu der unausweichlichen Erkenntnis, dass sämtliche Stücke für Frauen geschaffen worden waren, die ganz andere Proportionen besaßen als Meredith und dass sie folglich irgendwie missgebildet sein musste. Am schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass sie, ganz gleich, für welche Farbe sie sich entschied, jedes Mal feststellen musste, dass sie in diesem Jahr nicht in Mode war oder, schlimmer noch, bereits seit wenigstens zwei Jahren völlig out. Ein übers andere Mal war sie am Ende eines langen Tages erhitzt, übellaunig und zerzaust aus einem Geschäft getreten, um bei ihrer Ankunft zu Hause festzustellen, dass sie viel Geld ausgegeben hatte für etwas, das ihr nicht richtig gefiel, nicht richtig saß, ein Etikett trug, aus dem hervorging, dass es nur mit der Hand gewaschen werden durfte, und einen Farbton besaß, der höchstens unter dem Einfluss halluzinatorischer Drogen ansprechend wirkte. Aus diesem Grund hatte sie lange gezögert, bevor sie früher in diesem Jahr eingewilligt hatte, sich von einer begeisterten Kollegin durch die Londoner Boutiquen schleppen zu lassen. Sie war mit einem Kleid von dieser Expedition zurückgekehrt, das sittsam genug geschnitten war, um eine Nonne zufrieden zu stellen – mit Ausnahme eines hohen Schlitzes in der Seite, der viel Bein zeigte.
»Es ist sehr modisch«, hatte die Kollegin fachmännisch geurteilt, um Meredith den coup de grâce zu versetzen mit der Bemerkung:
»Und es ist nützlich. Es ist genau die Sorte von Kleid, die man wirklich zu jeder Gelegenheit tragen kann.« Trotz der nagenden Furcht, es könnte sich hinterher als genau die Sorte Kleid herausstellen, die man zu keiner Gelegenheit tragen konnte, hatte Meredith nachgegeben. Sie hatte das Kleid mit ins Büro genommen und ausgepackt, um es Gerald zu zeigen. Nicht, dass sie Geralds Meinung besonders schätzte, doch das Gefühl, wieder einmal einen Fehler gemacht zu haben, wuchs von Sekunde zu Sekunde in ihr, und sie wollte eine unabhängige Meinung.
»Sexy«, sagte Gerald.
»Es gefällt mir.« Geralds unqualifiziertes
»Es gefällt mir« war, wenn überhaupt, schlimmer, als hätte er gesagt, es sei scheußlich. Meredith starrte das Kleid entsetzt an.
»Was um alles in der Welt soll daran sexy sein? Es hat lange Ärmel und einen hohen Ausschnitt, keine Taille, Regulierknöpfe, und es ist dunkelblau. Es sieht für mein Gefühl aus wie die Art von Kleid, die Krankenhausmatronen getragen haben, als sie noch wie Drachen durch die Gänge gelaufen sind. Das Einzige, was fehlt, ist eine kleine Uhr zum Anstecken an der Büste. Und sieh dir nur den Schlitz in der Seite an! Die Verkäuferin nannte es ein Feature. Als hätte jemand die Naht vergessen!«
»Glaub mir«, erwiderte Gerald, politisch unkorrekt wie eh und je,
»dieses Kleid spielt gleich mit männlichen Fantasien. Erstens Frauen in Uniform und zweitens Frauen mit langen Beinen. Mit diesem Kleid kannst du keinen Fehler machen!«
»O Gott …!«, stöhnte Meredith und stopfte das Kleid ungehalten zurück in die Einkaufstüte. Sie hatte es mit nach Hause genommen, auf einen Bügel gehängt, und dort war es geblieben. Bis zum heutigen Tag. Jetzt nahm sie es hervor und betrachtete es. Wenn sie es niemals trug, wäre es völlige Geldverschwendung gewesen. Sie probierte es an. Zwei Dinge wurden ihr augenblicklich bewusst. Erstens, sie brauchte ein anständiges Paar Strümpfe ohne Laufmaschen oder geflickte Stellen, und zweitens, sie brauchte hochhackige Schuhe, etwas, das sie normalerweise vermied. Meredith bückte sich und kramte ein paar schwarze Pumps aus dem hinteren Teil ihres Schranks. Sie blies den Staub vom Leder. Es gelang ihr, sich zu duschen, die Haare zu waschen und sich fertig zu machen, bevor Alan um sieben Uhr eintraf, doch es war knapp.
»Feucht«, stellte Alan fest und strich über ihre dicken braunen Haare, als er sie küsste.
»Ein neues Kleid? Sehr hübsch.« Er schnüffelte.
»Und ein neues Parfum?« Das Kleid hatte die erste Hürde genommen. Meredith entspannte sich ein wenig. Sie sah keine Notwendigkeit zu erklären, dass der schwache Duft nach Parfum in Wirklichkeit von einem Möbelspray stammte,
»Wiesenblumen«, das sie zum Polieren ihrer Pumps benutzt hatte.
»Die Haare sind feucht, weil ich eben erst aus der Dusche gekommen bin«, sagte sie.
»Ich habe gerochen wie ein Müllmann.« Er runzelte die Stirn.
»Wieso denn das? Oh, von den Überresten des Feuers. Du warst drüben in Tudor Lodge, stimmt’s? Sind sie wieder zurück in ihrem Haus?«
»Vermutlich, ja. Aber ich war nicht bei ihnen. Ich war an der Brandstelle, in Sawyers Bungalow. Es sieht grauenhaft aus. Überall hängt der Geruch von Rauch und nassem Holz, und daran wird sich in den nächsten Tagen wahrscheinlich nichts ändern. Die Leute in ihren Häusern tun mir richtig Leid. Das Haus der armen Irene Flack ist außen ganz schwarz vom Ruß und Dreck. Ich habe die Ruine gesehen, und es ist ein kleines Wunder, dass sich das Feuer nicht weiter ausgebreitet hat, Alan. Ich hoffe doch sehr, Harry Sawyer war versichert? Obwohl das im Augenblick wahrscheinlich seine geringste Sorge sein dürfte.« Indem sie Harry erwähnte, versuchte sie, Markbys unausweichlichen nächsten Worten zu entgehen, obwohl sie wusste, dass es vergeblich war. Sie bemerkte diesen leicht ärgerlichen, leicht tadelnden Ausdruck in seinem Gesicht, der sie stets gereizt machte. Er würde gleich sagen, dass sie nicht dorthin hätte gehen dürfen. Er sagte ständig, dass sie dies oder jenes nicht gedurft hätte, was ein Grund dafür war, dass sie Dinge zuerst tat und ihm hinterher davon erzählte. Nicht, dass er nicht häufig Recht gehabt hätte – im Gegenteil, das Wissen, dass er Recht gehabt hatte, machte es nur noch schlimmer. Und wenn wir verheiratet wären, dachte sie plötzlich, würde er alles wissen, was ich mache, und ich würde dieses Gesicht ein Dutzend Mal in der Woche ertragen müssen …
»Diese Gegend ist gefährlich, Meredith!«, tadelte er sie ernst.
»Die Ruine ist unsicher, und das Feuer kann jederzeit wieder ausbrechen. Die Feuerwehr rückt morgen noch einmal aus und tränkt alles nochmal gut durch. Was um alles in der Welt hast du dort gewollt? Wonach hast du gesucht?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Normalerweise hab ich ja überhaupt nichts dagegen, wenn du auf eigene Faust herumschnüffelst …«
»Hey!«, unterbrach sie ihn indigniert.
»Hör sofort auf damit! Ich schnüffle nicht herum! Ich rede vielleicht mit einigen Leuten, und genau das ist es, was ich rein zufällig auch heute Nachmittag gemacht habe. Es war ein sehr interessantes Gespräch, und wenn du höflich bist, erzähle ich dir davon. Aber wenn du mir so aufgeblasen daherkommst, sage ich nichts!«
»Mit wem hast du geredet?«, fragte er misstrauisch. Sie ließ sich zu einem Grinsen hinreißen, in dem Wissen, dass sie eine Überraschung für ihn hatte.
»Mit Sammy Joss. Er ist der jüngere Sohn von Dan Joss. Das ist dieser Bursche, der dem unglaublichen Hulk so verblüffend ähnlich sieht …«
»Ich kenne den Joss-Clan!«, unterbrach Alan ihren Redefluss.
»Als ich noch in Bamford war, habe ich sowohl Solomon Joss als auch Hesekiel Joss und Jericho Joss mehrmals festgenommen. Alles umgängliche Burschen, wenn sie nicht gerade betrunken sind und Schlägereien anzetteln. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Joss-Frauen sind nicht gerade wehrlos. Salome Joss hat einmal ganz allein den Empfangsschalter der Bamforder Wache zu Kleinholz verarbeitet.«
»Haben die Josses denn alle biblische Namen?«, fragte Meredith abgelenkt.
»Entweder biblisch oder patriotisch. Als ich ein Junge war, gab es einen alten Burschen, ein einheimisches Original, namens Waterloo Joss. Er hatte einen Lumpenhandel und wurde gelegentlich aufgegriffen, weil er betrunken mit einem Pferdewagen durch die Stadt gefahren war. Was hat dich veranlasst, mit dem jungen Sammy zu reden?«
»Ich habe ihn in der Nacht des Feuers in der Gemeindehalle gesehen, und mir kam die Idee, dass ein Junge wie Sammy jetzt, nachdem alle wieder nach Hause durften, ganz bestimmt nicht imstande wäre, sich von der Brandstelle fern zu halten. Und deswegen bin ich zu Harry Sawyers Bungalow gegangen, und dort habe ich ihn gefunden.« In ihrer Stimme schwang ein triumphierender Unterton mit, der Markby überhaupt nicht behagte.
»Ich hoffe doch, du hast diesem kleinen Tunichtgut gesagt, dass er sich fern halten soll? Was hatte er dort überhaupt zu suchen?«
»Er hat rumgeschnüffelt. Er hat die Überreste von Harrys Hund gefunden. Er war ganz aufgeregt über seine Trophäe, der kleine Erwachsenenschreck.«
»Hör zu!«, platzte Alan hervor.
»Die Ermittlungsbeamten der Feuerwehr sind noch nicht fertig mit der Erforschung der Brandursache, und du erzählst mir, dass der junge Taugenichts die Spuren zerstört?« Er blickte Meredith böse an.
»Was hattest du überhaupt mit ihm zu reden?«
»Komm, wir nehmen erst mal einen Drink«, schlug Meredith vor, als sie sah, dass die Dinge nicht so liefen, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Wir haben Zeit. Möchtest du lieber einen Gin oder einen Schluck Whisky?« Sie schob sich zu ihrem bescheidenen Barschrank.
»Ich nehme einen Sherry, falls du einen hast, aber nur einen ganz kleinen. Paul schenkt wahrscheinlich wieder jede Menge Wein aus.« Alan setzte sich auf das Sofa und entspannte sich. Er sagte nichts mehr, bis Meredith ihm den Sherry reichte, dann hob er ihn und prostete ihr zu.
»Cheers. Und wirst du mir nun erzählen, was der junge Joss zu sagen hatte? Oder warum du auf den Gedanken gekommen bist, er könnte überhaupt etwas zu sagen haben?« Meredith setzte sich neben ihm auf die Couch, sodass er den Schlitz in ihrem Kleid sehen konnte.
»Oh«, sagte er.
»Wofür ist der?«
»Für dich! Überraschung! Hör zu, Sammy ist die Sorte Junge, die den ganzen Tag lang unbeaufsichtigt durch die Gegend streift – niemand fragt ihn je, wo er gewesen ist oder was er gemacht hat, richtig? Und er gehört auch nicht zu den Kindern, die zu einer halbwegs vernünftigen Zeit zu Bett geschickt werden. Erinnerst du dich an den Weg über die Trockenmauer hinten im Garten von Tudor Lodge? Ich konnte mir vorstellen, dass Sammy Joss sich mehr oder weniger häufig in den Garten geschlichen hat, wo er doch so nah bei Tudor Lodge wohnt, aus reiner Neugier, verstehst du?«
»Möglich«, räumte Alan nachdenklich ein.
»Oder weil er das Haus ausspionieren wollte, entweder für sich oder für jemand anderen. Ich kenne die Josses ein wenig besser als du.« Meredith entschied sich, seine Antwort zu ignorieren. Sie hatte eine Abmachung mit Sammy Joss, und sie hatte vor, sich an ihren Teil zu halten.
»Ich habe mich jedenfalls gefragt, ob er möglicherweise auch am Abend des Mordes im Garten von Tudor Lodge rumgehangen hat.« Alan stellte den Sherry ab.
»Und?«
»Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn überzeugt hatte, doch schließlich gab er es zu. Er beobachtet die Penhallows regelmäßig durch die Fenster. Oder wenigstens durch das Küchenfenster, das nach hinten zeigt und wo sich niemand die Mühe macht, nach Anbruch der Dunkelheit einen Vorhang zuzuziehen oder eine Jalousie herunterzulassen. Er war an diesem Abend über die Mauer gestiegen wie schon früher, in der Absicht, sich hinter den Büschen zu verstecken und die Penhallows zu beobachten, doch er erlebte eine unangenehme Überraschung. Jemand anderes war ihm zuvorgekommen und spielte das gleiche Spiel wie Sammy. Harry Sawyer.«
»Was? Harry Sawyer?«, rief Alan aus.
»Dann hat Dave Pear ce am Ende vielleicht doch Recht!«
»Was denn, glaubt Dave Pearce, dass Harry Sawyer der Mörder ist?«, fragte Meredith verblüfft.
»Sagen wir es so: Dave Pearce hat eine Theorie, und sie klingt plausibel.«
»Und du bist der gleichen Meinung wie Dave Pearce? Du glaubst, dass er Recht hat?«
»Es war bereits vorher eine Möglichkeit, die wir in unsere Ermittlungen mit einbezogen hatten, und jetzt wird sie noch wahrscheinlicher. Dave ist ein guter Mann, und er nimmt seine Arbeit ernst. Ich denke mir, er würde den Fall gerne lösen und das Lob einheimsen. Daran ist nichts falsch, und möglicherweise hat er sogar Recht, insbesondere jetzt, wo wir einen Zeugen haben, der Harry zur fraglichen Zeit am Tatort gesehen hat.« Meredith dachte über seine Worte nach. Sie kratzte sich geistesabwesend am Kopf und zerstörte das sorgfältige Arrangement, das sie kurze Zeit zuvor am Spiegel kreiert hatte.
»Nun, das würde mich und meine geniale Idee matt setzen.«
»Und wie lautet diese geniale Idee?« Markby lächelte und legte den Arm um ihre Schultern.
»Glaub mir, es interessiert mich wirklich. Ich habe eine Menge Respekt vor deinen genialen Ideen, obwohl sie sich gelegentlich auch als …« Er bemerkte ihren Blick und ergänzte seine letzten Worte hastig:
»… gelegentlich auch als schwierig zu beweisen herausstellen. Das Dumme an der Polizeiarbeit ist nämlich, dass wir alles beweisen müssen. Wenn wir einen Fall abgeschlossen haben, wird er vor Gericht auf Herz und Nieren geprüft. Ein Polizist darf sich nicht auf sein Gefühl verlassen, ganz gleich, wie stark es sein mag. Ein Polizist hält sich an Beweise, sonst steckt er bald in ziemlichen Schwierigkeiten.« Sie kuschelte sich in seine Armbeuge.
»Hm, ja, ich bin ja keine Polizistin, und ich darf mich auf mein Gefühl verlassen, oder? Im Gegensatz zu Dave Pearce glaube ich nämlich nicht, dass Harry Sawyer euer Mann ist. Ich glaube allerdings, dass Harry weiß, wer es getan hat. Sammy wäre fast in ihn gerannt in der Dunkelheit. Er und Harry kommen nicht gut miteinander aus, deswegen wollte er nicht, dass Harry ihn auf einem fremden Grundstück erwischt, auch wenn Sawyer nicht mehr Recht hatte dort zu sein als Sammy. Harry hat den Jungen jedenfalls nicht bemerkt, weil seine Aufmerksamkeit abgelenkt war. Er hat ein Mädchen beobachtet, das Sammy als Kate Drago identifizieren kann, nachdem er Kate in der Gemeindehalle gesehen hat.« Alan trank den Rest von seinem Sherry und stellte das Glas vorsichtig auf einen Beistelltisch.
»Und was hat sie Sammys Auskunft zufolge dort gemacht?«
»Sie hat durch das Küchenfenster ins Haus gespäht. Was Sammy für eigenartig hält, wo sie doch eine Freundin der Familie ist.«
»Es untermauert jedenfalls ihre Geschichte«, sagte Markby.
»Sie sagt, sie hätte ihren Vater dabei beobachtet, wie er sich eine Wärmflasche gemacht hat. Danach hätte sie jemanden bemerkt, der sie beobachtet, und das hätte sie erschreckt, und sie wäre geflüchtet. Wir hatten unsere Schwierigkeiten, ihr zu glauben, weil sie es nicht beweisen konnte. Jetzt erzählst du mir, dass Sawyer an jenem Abend im Garten von Tudor Lodge war, also hat Kate die Wahrheit gesagt. Hat dein Informant auch gesehen, was danach geschehen ist?« Meredith seufzte.
»Unglücklicherweise nicht, nein. Der Junge hatte Angst, von Sawyer entdeckt zu werden, also ist er wie der über die Mauer zurück.« Markby legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke hinauf.
»Vielleicht können wir am Montag mit dem Mann reden.«
»Angenommen, der Mörder hat Harry ebenfalls gesehen«, sagte Meredith nachdenklich.
»Oder er hegte den Verdacht, Harry könnte ihn gesehen haben. Er würde ihn zum Schweigen bringen wollen, nicht wahr? Und der Brand hätte Harry ja auch fast für immer mundtot gemacht.«
»Dieser verdammte Sawyer!«, murmelte Alan.
»Wenn er etwas gewusst oder gesehen hat, warum um alles in der Welt hat er es dann nicht Dave Pearce erzählt, als er die Gelegenheit dazu hatte? Warum müssen die Leute immer unbedingt alles für sich behalten? Dave hat erzählt, der Mann hätte sich darüber beschwert, dass seine Rechte beschnitten würden, sonst hätte er überhaupt nichts gesagt. Er wüsste, was seine Rechte wären, und er würde sie sich von niemandem nehmen lassen! Er hat den armen Dave sogar beschuldigt, die ›Meute‹ auf ihn zu hetzen, ich muss doch sehr bitten!« Meredith lachte auf.
»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Dave irgendjemandem Angst einjagt. Er ist nicht wie dieser Sergeant, der so furchteinflößend aussieht … Ich habe seinen Namen vergessen. Aber er bringt jeden zum Zittern.«
»Du meinst Sergeant Prescott, und du bist ungerecht. Er leidet im Augenblick unter einem schlimmen Anfall von Liebeskummer.« Verlegenes Schweigen entstand. Meredith hoffte, dass er nicht wieder damit anfangen würde, über ihre persönliche Situation zu reden. Sie war sich immer noch nicht im Klaren, was sie ihm sagen sollte. Glücklicherweise fuhr Alan fort:
»Ich will damit nicht sagen, dass Prescott mit den Gedanken nicht bei der Arbeit ist. Wenn überhaupt, dann ist die Arbeit an seiner verzwickten Lage schuld!«
»Du meinst doch wohl nicht etwa … Kate Drago?«, fragte Meredith so verblüfft, dass sie ihr Problem vergaß.
»Sie sieht atemberaubend aus, und sie hat eine Art an sich, die Männer ganz unruhig macht. Ich glaube nicht, dass Prescott der Einzige ist, der diese Erfahrung machen musste. Ich hätte ihn von diesem Fall abziehen können, doch das wäre zu drastisch gewesen, und offen gestanden, er muss diese Situationen meistern lernen; er wird sie noch häufiger erleben. Außerdem wollte ich keinen Mangel an Vertrauen in ihn demonstrieren. Ich bin recht zuversichtlich, dass er nichts Dummes macht, und ich glaube nicht einen Augenblick lang, dass sie ihn in irgendeiner Weise ermuntert hat. Ich hoffe es jedenfalls nicht. Hör mal, hast du etwas dagegen, wenn ich kurz dein Telefon benutze?« Alan setzte sich abrupt auf und nahm den Arm von ihren Schultern.
»Wir müssen eine Wache im Krankenhaus postieren, vor Sawyers Zimmer! Falls Dave Recht hat, ist er der Mörder. Falls du Recht hast, könnte der Mörder jederzeit wieder versuchen zuzuschlagen, nachdem der erste Versuch nicht von Erfolg gekrönt war.«
»Lange nicht gesehen«, sagte Laura und hob ihr Glas.
»Zu lange, Meredith. Übrigens, ein fantastisches Kleid, das du da anhast. Ich weiß überhaupt nicht, warum wir uns so lange nicht mehr gesehen haben. Früher haben wir uns häufiger getroffen. Aber die Zeit fliegt nur so dahin in diesen Tagen. Ich hatte zu tun, du hattest zu tun, Alan hat immer zu tun …«
»Ich muss schließlich verhindern, dass deine Mandanten umgelegt werden!«, sagte Lauras Bruder schroff.
»Hey, es ist dein Job, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schützen! Wie kommst du voran? Irgendwelche Fortschritte?«
»Ein paar«, lautete die vorsichtige Antwort.
»Was hast du übrigens mit deinen Kindern gemacht? Wo stecken sie?«
»Emily und Vicky schlafen bereits, Matthew ist im Internat, und Emma ist zu einem Wochenende mit dem Reitclub weg. Sie wird die ganze Zeit Mähnen bürsten, Leder polieren und verbrannte Würstchen essen. Ich hoffe nur, sie vergisst nicht, sich die Hände zu waschen«, schloss Emmas Mutter im Tonfall leichter Besorgnis. In der Küche erklangen das Klappern von Utensilien und die unterdrückten Flüche des Kochs.
»Macht euch keine Gedanken wegen Paul«, sagte seine Ehefrau gleichmütig.
»Er ist glücklich. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über den armen Harry Sawyer, Alan?«
»Es geht ihm den Umständen entsprechend. Wir waren noch nicht im Stande, mit ihm zu reden. Ich hoffe, es dauert nicht mehr allzu lange.«
»Soll man es glauben?«, wandte sich Laura an Meredith.
»Da liegt so ein armer Teufel in einem Krankenhausbett, von oben bis unten in Verbänden, und ein Cop trampelt herein, packt sein Notizbuch aus, leckt am Ende seines Stifts und fängt an, ihn zu befragen? Ich würde sofort einen Rückfall erleiden!«
»Unsere Technik hat sich beträchtlich verbessert; es ist nicht mehr so, wie du es beschreibst«, entgegnete Markby gelassen.
»Offen gestanden, ich glaube nicht, dass sich die Technik der Polizei auch nur ein Jota verbessert hat, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie auch den letzten Charme abgelegt hat. Was ist nur aus jenen Tagen geworden, als ein Constable respektvoll den Finger an den Helm gelegt hat und sich freundlich erkundigte, wie es denn so ginge.«
»Wir haben eine Gemeindepolizei, und es funktioniert ziemlich gut. Ich mache dir einen Vorschlag, Laura, komm doch einfach mal für einen Tag rüber ins Bezirkspräsidium und sieh uns bei der Arbeit zu. Dann weißt du, was wir machen und wie wir es tun.« In diesem Augenblick kam Paul aus der Küche, ein Glas Wein in der Hand, und warf sich neben Meredith auf das Sofa.
»Cheers!«, prostete er ihnen zu.
»Alles läuft nach Plan, wir können bald essen.«
»Was gibt es denn?«, fragte Meredith.
»Oder ist es eine Überraschung? Mir läuft immer schon das Wasser im Mund zusammen, sobald ich weiß, dass wir zu euch essen kommen.«
»Gut. So soll es sein. Ich mache eine Art alouettes sans têtes, auch bekannt als moineaux sans têtes. Eigentlich ist es ein Gericht mit Rindfleisch, aber das ist teuer, und viele Leute haben ethische Bedenken gegen seinen Verzehr. Also habe ich eine Variation mit Putenschnitzel entwickelt, und es funktioniert ausgezeichnet. Ich gebe ein klein wenig getrockneten, knusprig frittierten Speck zu der Farce, um den Geschmack aufzupeppen.«
»Es schmeckt ganz bestimmt köstlich!«, sagte Meredith.
»Ich kann mich kaum noch bremsen.« Paul strahlte seine Gäste an.
»Worüber redet ihr? Bamfords Prominentenmörder?«
»Ja«, antwortete sein Schwager.
»Allerdings streiften wir das Thema nur am Rande. Deine Frau hat eine Vorstellung von der Polizeiarbeit, die schon seit mehreren Generationen nicht mehr aktuell ist.«
»Ich hätte wirklich geglaubt«, sagte Paul grinsend,
»dass du inzwischen weißt, wann deine Schwester dich auf den Arm nimmt.«
»Und es ist wirklich ganz leicht …«, murmelte Laura mit einem Zwinkern zu Meredith.
»Mal im Ernst«, fuhr Paul fort,
»fast hättet ihr einen zweiten Toten gehabt, richtig? Der arme Harry Sawyer, er ist so ein offener Bursche. Entweder er mag dich, oder er mag dich nicht. Wenn er dich mag, macht er tatsächlich alles, um dir behilflich zu sein. Wenn nicht, sagt er dir nicht mal Guten Tag. Er ist ein guter Mechaniker und kein schlechter Geschäftsmann. Eine Schande, dass seine Frau ihn hat sitzen lassen. Ich glaube, danach wurde er mürrisch und verschlossen. Ich hoffe nur, er kommt drüber hinweg. Ist dieses Mädchen eigentlich noch in der Gegend?«
»Wenn du damit Kate Drago meinst«, sagte Meredith,
»dann lautet die Antwort Ja.« Laura schlug die wohlgeformten Beine übereinander und schob sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
»Du klingst, als hättest du etwas gegen sie, Meredith. Du kennst sie persönlich, nicht wahr?«
»Das stimmt, ja. Ich habe sie buchstäblich vor der Tür von Tudor Lodge abgesetzt, und ich hatte allen Grund zu befürchten, dass ich damit einem schlimmen Unheil Vorschub gewährte!«, berichtete Meredith düster.
»Ich fühle mich, als hätte ich den Penhallows einen Wechselbalg auf die Türschwelle gelegt.«
»Ah«, sagte Paul.
»Du glaubst, sie ist falsch?« Diese Aussage weckte Widerspruch in Meredith. Sie wollte Kate gegenüber nicht unfair sein, doch ihre instinktive Abneigung war stark. Sie vertraute Kate nicht, allerdings gab es verschiedene Abstufungen von Misstrauen. Man konnte eine Person für selbstsüchtig und manipulativ halten – und Meredith hielt Kate Drago für beides –, ohne dass sie dadurch gleich ein Mörder war. Es war ein großer Schritt von Falschheit zu Mord, und es war keine Anschuldigung, die man leichtfertig machen durfte.
»Kommt darauf an, was du damit meinst!«, erwiderte sie vorsichtig.
»Wenn du meinst, ob ich glaube, dass sie ihren Vater ermordet hat, dann hoffe ich, dass sie es nicht war, und ich habe keine Anhaltspunkte, dass sie es gewesen sein könnte. Ich denke allerdings, dass sie ein Katalysator ist. Sie gehört zu jener Sorte von Menschen, die, sobald sie die Bühne betreten, alles zum Auseinanderfallen bringen oder andere zu Dingen provozieren, die diese sich niemals hätten träumen lassen. Ich glaube …«, fügte Meredith langsam hinzu,
»… ich glaube, dass Menschen wie Kate Drago in früheren Zeiten als Hexe betrachtet worden wären.«
»Hey, das ist aber ziemlich starker Tobak!«, protestierte Markby.
»Nein, überhaupt nicht. Von Hexen hieß es schon immer, dass sie sich in wunderschöne Jungfrauen verwandeln konnten. Sie hat eine sehr starke Ausstrahlung auf andere Menschen, wie auch du bereits festgestellt haben dürftest. Niemand ist ihr gegenüber immun. Sie ist beunruhigend. Und es hat eine Zeit gegeben, da haben die Menschen das als Hexerei bezeichnet.«
»Zugegeben, sie macht die Leute unruhig«, sagte Markby zu seiner Schwester.
»Sie hat Pearce durcheinander gebracht und dem jungen Prescott auf alarmierende Weise den Kopf verdreht. Hast du inzwischen noch etwas von ihrem Anwalt gehört, diesem Green?«
»Habe ich, aber falls du den Inhalt seines Briefes erfahren möchtest, musst du dich schon an ihn selbst wenden. Ich darf dir nicht mehr sagen, als dass Green geschrieben hat.« Aus der Küche meldete sich die Zeitschaltuhr mit einer fröhlichen Melodie und verkündete, dass die Hauptmahlzeit fertig war. Paul verschwand, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, und die anderen erhoben sich von ihren Plätzen und gingen in froher Erwartung zum Esstisch.
»Hat es geschmeckt?«, fragte Paul etwa eineinhalb Stunden später.
Sie saßen wieder im Wohnzimmer und entspannten bei Kaffee und Brandy. Die Unterhaltung hatte sich kurze Zeit um die Kinder und ihre letzten Erfolge oder Krisen gedreht, obwohl Markby, sonst ein hingebungsvoller Onkel, überraschend wenig Interesse zeigte und düster in seinen Brandy starrte.
»Aber selbstverständlich!«, versicherte Meredith ihm.
»Es war köstlich!« Der Koch wand sich.
»Danke, Meredith. Aber ich – äh, eigentlich hatte ich Alan gefragt.«
»Mich?« Pauls Schwager blickte überrascht auf.
»Was denn? Oh, sicher, erstklassig! Wie immer! Warum fragst du? Ich hab doch schon gesagt, dass das Essen fantastisch war, oder nicht?«
»Ja, sicher, aber ich habe mich gefragt, weil … ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich es erwähne, oder?« Pauls Gesichtsausdruck grenzte an Panik.
»Ich hatte überlegt, ob ich dieses Rezept im nächsten Monat einer Frauengruppe vorstelle, und ich wollte wissen, ob es irgendetwas daran auszusetzen gibt. Ich meine, einschließlich der Art und Weise, wie es aussieht. Du hast nämlich – bitte entschuldige, Alan, aber du hast in deinem Essen herumgestochert und alles genau in Augenschein genommen und ganz verwirrt ausgesehen. Ich … ich wollte vorhin schon fragen, ob vielleicht etwas nicht damit stimmt, aber ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen, und den anderen schien es zu schmecken, deshalb … na ja, und nach dem Essen warst du ungewöhnlich still.«
»Mein lieber Freund, ich hatte keine Ahnung, dass ich dir so viel Kummer mache!« Alan blickte betreten auf.
»Es hatte nicht das Geringste mit dem Essen zu tun … ich meine in gewisser Hinsicht schon – nein!« Paul war zusammengezuckt.
»Das Essen war perfekt! Stell dieses Essen nur genau so vor, die Frauen werden es lieben! Aber könntest du mir verraten, wie du es zubereitet hast?« Meredith und Laura starrten ihn überrascht an.
»Was denn, du willst kochen lernen, Alan?«, fragte seine Schwester.
»Nein – hört zu, ich wusste nicht, dass es so offensichtlich war, und ich möchte mich dafür entschuldigen. Es hatte nichts mit dem Geschmack oder dem Aussehen zu tun – nun ja, schon mit dem Aussehen, aber nichts, das für irgendjemanden außer mir von Interesse sein könnte. Hab einen Augenblick Geduld, Paul, und verrate mir, wie du es gemacht hast. Ich brauche keine Liste mit Zutaten, sondern wie du alles gemacht hast. Stell dir einfach vor, ich wäre eine von deinen alten Damen.«
»Sie sind nicht alle alt«, sagte Paul.
»Du meinst die Methode, Alan, habe ich Recht? Nun ja, als Erstes bereitet man die Füllung zu, gehackte Pilze, Hackfleisch, der geröstete Speck, wie ich bereits gesagt habe … dann legt man jedes einzelne Schnitzel auf eine Platte und schlägt es so dünn, wie es nur geht. Anschließend verteilt man die Füllung auf dem Fleisch, rollt es sozusagen und steckt einen Cocktailspieß hindurch, um es zusammenzuhalten. Danach nimmt man einen Faden und wickelt …«
»Halt, halt!«, unterbrach ihn Markby und hob die Hand.
»Womit schlägst du das Schnitzel dünn? Vielleicht klingt meine Frage dumm, aber vergiss nicht, ich bin Polizist und kein Koch. Mir ist aufgefallen, dass das Fleisch mit lauter kleinen Vertiefungen überzogen war.«
»Mit einem Fleischhammer«, sagte Paul verwirrt.
»Kann ich ihn vielleicht sehen, diesen Fleischhammer?« Alan sprang eifrig von seinem Platz auf.
»Ich glaube, jetzt ist er übergeschnappt«, sagte Laura an Meredith gewandt.
»Das kommt von diesem ständigen Stress!«
»Gewiss«, antwortete der gutmütige Paul an Markby gewandt.
»Komm mit in die Küche.« Sie gingen in die Küche, wo Paul nicht nur einen, sondern zwei Fleischhämmer verschiedener Größe aus der Schublade nahm und anfing, Markby die verschiedenen Vorzüge und Nachteile zu erklären.
»Der kleine hier ist ein gewöhnlicher britischer Fleischhammer. Der Kopf ist zu klein, um viel zu bewirken, und wenn man zu viel schlägt, riskiert man Löcher im Fleisch. Dieser hier jedoch …«, Paul hob den anderen Hammer. Markby betrachtete das Instrument. Es war ein beeindruckendes Gerät, ein richtiger Schlegel, und eine Seite des massiven Holzkopfes war mit einer stumpfzackigen Stahlplatte überzogen.
»Das ist ein echter mitteleuropäischer Schnitzelklopfer. Ich habe ihn letztes Jahr in Prag gekauft, als Laura und ich einen Kurztrip dorthin gemacht haben«, berichtete Paul voller Begeisterung.
»Damit kann man ein Schnitzel so dünn klopfen wie Papier, ohne dass das Fleisch löchrig wird. Dieser mickrige kleine Hammer hier – wenn du damit zu sehr übertreibst, hast du kein Schnitzel mehr, sondern kleine Fetzen von Fleisch, aus denen du höchstens noch Geschnetzeltes machen kannst.« Markby streckte die Hand nach dem
»echten mitteleuropäischen Schnitzelklopfer« aus. Er nahm ihn, wog ihn prüfend in der Hand und vollführte eine schlagende Bewegung damit.
»Hast du je den Gestohlenen Brief gelesen, Paul? Nein? Macht auch nichts. Es ist eine alte Kriminalgeschichte über einen kompromittierenden Brief. Die Wohnung des Schurken wird durchsucht, ohne Erfolg, bis der Detective erkennt, dass der fragliche Brief nicht versteckt, sondern die ganze Zeit über vor ihren Augen gewesen ist, in einem Briefständer zusammen mit all der üblichen Tagespost. Er war, wie ich annehme, ein besserer Detective als ich. Ich suche nach einer Mordwaffe, und dabei hängt sie die ganze Zeit über inmitten aller anderen Utensilien an einer Küchenwand, wo jeder sie sehen kann!« Er wandte sich ab und rannte aus der Küche.
»Kann ich euer Telefon benutzen? Tut mir Leid, wenn ich die Feier abbrechen muss, und ich verspreche, dass ich alles tun werde, um es wieder gutzumachen, aber es ist keine Übertreibung, wenn ich euch sage, dass es um Leben und Tod geht!« Er tippte bereits die Nummer ein, während er noch redete, und als sich jemand am anderen Ende meldete, brüllte er fast in den Hörer.
»Hallo? Superintendent Markby hier. Wer ist noch da? Prescott? Gut. Schaffen Sie ihn ans Telefon, schnell! … Steve, sind Sie das? Ich möchte, dass Sie nach Tudor Lodge fahren und dort auf mich warten! … Ja, jetzt sofort! Wir treffen uns dort in …«, Markby sah auf seine Armbanduhr,
»… wir treffen uns dort in zwanzig Minuten!« Inzwischen waren Laura und Meredith in den Flur gekommen und überhäuften Markby mit Fragen.
»Ich muss gehen, Schwester, tut mir Leid. Ich krieche fünfzig Mal auf den Knien durch den Garten oder was auch immer du als Buße von mir verlangst, aber ich muss so schnell wie möglich rüber nach Tudor Lodge!«
»Ich komme mit!«, sagte Meredith prompt.
»Ich darf doch mitkommen, Alan, oder?« Er zögerte nur kurz.
»Ja, du könntest dich als nützlich erweisen. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann und der ganz privat dort ist, als Wache.«
»Und wen soll Meredith bewachen?«, fragte Laura neugierig.
»Carla Penhallow!«
KAPITEL 18
»WILLST DU mir nicht verraten, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Meredith, während sie durch die Nacht rasten.
»Und fahr langsamer! Du hast getrunken, und du willst sicher nicht angehalten werden und dich einem Alkoholtest unterziehen?«
»Ich habe endlich herausgefunden, wie es sich zugetragen hat. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass der Mörder erneut zuschlagen könnte, und er hat es tatsächlich versucht. Allerdings hatte ich das falsche Opfer im Auge! Wenn wir dort sind, möchte ich, dass du bei Carla Penhallow bleibst, ganz egal, was sie macht. Halte dich an ihrer Seite.«
»Sie kocht heute Abend für die ganze Familie«, erinnerte sich Meredith an ihre Unterhaltung vom Morgen.
»Sie wollte ein Willkommensessen für sich und die beiden anderen zubereiten, also hat sie beschlossen, ihre alten Kochbücher zu entstauben und ein Curry oder eine Lasagne oder was auch immer zu machen.« Markby sagte nichts. Er starrte angestrengt auf die Straße und trat das Gaspedal noch fester durch. Glücklicherweise herrschte nur wenig Verkehr. Doch obwohl Markby sich so beeilt hatte, war Prescott schneller gewesen. Er trat am Tor von Tudor Lodge aus dem Schatten, als Markby an den Straßenrand lenkte.
»Was ist denn passiert, Sir?« Prescotts normalerweise gesunde Gesichtsfarbe war im spärlichen Licht der Straßenlaternen hier am Stadtrand einem ungesunden Weiß gewichen, und er sah Markby gespannt an.
»Ist im Haus alles in Ordnung? Sie sagten, ich solle hier auf Sie warten, also habe ich noch nicht geläutet. Ich habe überlegt, ob ich läuten soll …«
»Nein, wir gehen alle zusammen rein.« Markby marschierte den Weg hinauf und betätigte entschieden die Türglocke. Luke kam, um zu öffnen, und streckte misstrauisch den Kopf nach draußen.
»Wer – oh, Sie sind es, Superintendent. Und Meredith! Kommen Sie herein! Wir sind gerade mit dem Essen fertig, und Mum und ich …« In diesem Augenblick bemerkte er Prescotts kraftvolle Gestalt im Hintergrund, und er erkannte, dass dieser Besuch nicht rein gesellschaftlich war. Das herzliche Willkommen verschwand aus seinem Gesicht.
»Sergeant …? Was … warum sind Sie alle hier?« Er blinzelte sie im Licht der Eingangshalle an.
»Was wollen Sie?«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir reinkommen, Luke?« Markby war bereits über die Schwelle, und Luke trat beiseite, um ihn passieren zu lassen.
»Ich habe keinen Haftbefehl, Luke, und Sie könnten sich widersetzen, wenn Sie wollen, doch angesichts der Umstände muss ich darauf bestehen.« Prescott war inzwischen ebenfalls durch die Tür getreten und blickte sich neugierig in der schwach erleuchteten Halle um. Als er die Person nicht sah, nach der er Ausschau gehalten hatte, wandte er sich an Luke und fragte:
»Ist alles in Ordnung?«
»Was für Umstände?« Luke hatte sich von seiner ersten Überrumpelung erholt und errötete. Er starrte Prescott düster an.
»Hören Sie, wir haben gerade zusammen zu Abend gegessen …«
»Umstände«, unterbrach ihn Markby,
»die mir Grund zu der Annahme geben, dass in diesem Haus ein Verbrechen unmittelbar bevorsteht oder bereits begangen wurde. Okay, Prescott – die Küche!« Luke folgte ihnen protestierend, als sie durch den Flur zur Küche marschierten, doch bevor sie den Raum erreichten, kam es zu einem Zwischenfall. Eine Tür wurde geöffnet, und Carla erschien. Auch sie hatte sich festlich gekleidet und trug eine locker sitzende, braune Crêpehose und eine Jacke über einer karamellfarbenen Seidenbluse, deren Farbton zu ihren goldblonden Haaren passte. An ihren Ohrläppchen baumelten Bernsteinperlen. Sie riss die Augen auf und fragte erschrocken:
»Was um alles in der Welt geht hier vor, Alan?«
»Mach dir keine Sorgen, Carla. Meredith ist gekommen, um dich zu sehen«, sagte Markby und schob Meredith vor.
»Warum setzt ihr euch nicht in das Zimmer und plaudert ein wenig? Wir sind gleich wieder zurück, einverstanden?«
»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, Mum«, sagte Luke ärgerlich zu seiner Mutter.
»Aber er hat Recht. Geh wieder ins Zimmer und setz dich und mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles, und wir … nun ja, wir werden herausfinden, warum plötzlich alle so aufgeregt sind. Offensichtlich handelt es sich um einen Irrtum …«
»Komm, Carla«, drängte Meredith, indem sie Carla Penhallow unterhakte und mit sich in das Zimmer hinter ihr zog.
»Lassen wir die Männer allein.« Prescott war in der Küche angekommen. Er stand mitten im Raum und starrte verwirrt auf den Berg ungewaschenen Geschirrs.
»Sir?« Er sah Markby fragend an. Luke schien zu glauben, dass er sich für die Unordnung entschuldigen müsse.
»Wir sind noch nicht zum Aufräumen gekommen. Ich wollte den Geschirrspüler einräumen, als Sie geläutet haben. Mum hat ein Festessen gekocht.«
»Was gab es?«, fragte Markby mit mehr Schärfe als gewöhnlich für eine so alltägliche Frage.
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Lasagne. Mum hat sie selbst gemacht.« Luke klang überrascht und stolz zugleich. Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass seine Mutter in der Küche Hand anlegte.
»Es war großartig, würzig und frisch, nicht so zermatscht und breiig, wie man sie manchmal zu kaufen kriegt. Mums Lasagne war einfach großartig.« Markby stand an der Wand, wo die beeindruckende Reihe von Küchenutensilien hing.
»Den dort, Sergeant. Den Fleischhammer. Packen Sie ihn ein.«
»Jawohl, Sir.«
»Moment mal!« Lukes mühsam bewahrte Contenance war verschwunden, und in seinen Augen flackerte Furcht.
»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber wenn Sie mich nicht bald aufklären, dann gibt es eine Menge Ärger! Sie können doch nicht einfach …« Markbys Augen hafteten auf dem Geschirr.
»Getrennte Portionen? Sie hat die Lasagne nicht in einer großen Form gemacht?«
»Was?« Luke starrte den Superintendent befremdet an.
»Nein, in getrennten Formen. Dann wird sie am Rand knuspriger – hören Sie, was zur Hölle ist das hier? Kochunterricht?«
»Wo befindet sich Kate Drago?« Als Prescott die Schärfe in Markbys Stimme bemerkte, riss er den Kopf hoch, und Besorgnis stand in seinem Gesicht. Luke stand trotzig da und schob den Unterkiefer streitlustig vor.
»Kate? Sie ist zu Bett gegangen, und wenn Sie glauben, ich lasse zu, dass Sie Kate wecken, dann …«
»Jetzt schon?« Prescott trat mit herabhängenden Armen und geballten Fäusten einen Schritt auf Luke zu.
»Finden Sie nicht, dass es ein wenig zu früh dazu ist? Sie sagten gerade, Sie hätten eben erst gegessen.«
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen – sie war müde. Kein Wunder, nach zwei Nächten praktisch ohne Schlaf, eine in der Gemeindehalle und eine im Crown Hotel. Wir haben eine ziemliche Menge Wein zum Abendessen getrunken, und das hat ihr wohl den Rest gegeben. Sie ist schon am Tisch eingeschlafen …« Markby fluchte und rannte nach draußen in die Halle.
»Welches Zimmer? Kommen Sie, Luke, Bewegung! Wo ist das Zimmer Ihrer Schwester?« Er war bereits halb die Treppe hinaufgerannt, bevor er ausgeredet hatte. Prescott stampfte hinter ihm her, und die alten Holzstufen knarrten protestierend.
»Kate!«, rief er verzweifelt.
»Kate, wo sind Sie?«
»Durch den Korridor auf der rechten Seite … ganz am Ende …« Luke folgte ihnen dicht auf den Fersen.
»Aber warum … hören Sie, Kate schläft wahrscheinlich tief und fest …« Markby stieß die Schlafzimmertür auf und streckte bereits die Hand nach dem Lichtschalter aus, als er sah, dass es nicht notwendig war. Die Nachttischlampe brannte bereits, doch sie war vom Nachttisch gestoßen worden und lag auf dem Teppich, wo sie eine zusammengekauerte Gestalt in ihr schummriges Licht tauchte. Kate Drago saß neben ihrem Bett auf dem Boden. Sie hatte die Bettdecke heruntergerissen und dabei die Lampe mitgezogen. Sie saß mit dem Rücken ans Bett gelehnt und war zur Seite gekippt. Ihre prachtvolle Mähne rahmte ein totenblasses Gesicht ein. Sie trug ein kunstvolles, mit Schnüren versehenes rosafarbenes Nachthemd im Empire-Stil. Wie durch eine Ironie des Schicksals war ein Taschenbuch vom Nachttisch zu Boden gefallen und lag mit dem Gesicht nach unten dort. Auf dem Umschlag war eine Dame in einem ähnlichen Nachthemd zu sehen, zusammen mit einem Gentleman in Reithosen und -stiefeln. Spriin Muslin, las Markby, von Georgette Heyer. Er schätzte, das Nachthemd war von Carla Penhallow ausgeliehen und fragte sich, ob es eines jener luxuriösen Geschenke war, die Andrew Penhallow seiner Frau mitgebracht hatte, um sein Gewissen zu erleichtern. Er hoffte inständig, dass es sich nicht als Totenhemd für Andrews Tochter erweisen würde. Kate saß so ernst und still da wie eine Marmorstatue, wie ein Modell für eine präraphaelitische Bildhauerschule, und man hätte sie tatsächlich für tot halten können, hätte sich nicht die Seide über ihrer Brust gehoben und gesenkt und verraten, dass sie so tief und fest schlief wie Dornröschen in ihrem Schloss. Selbst die trampelnden Schritte dreier Männer, die in ihr Zimmer vorgedrungen waren, vermochten sie nicht zu wecken. Prescott reagierte als Erster. Er bückte sich zu Kate hinab, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie heftig.
»Kate, wachen Sie auf … Grundgütiger!«, heulte er verzweifelt auf. Markby schob ihn beiseite, kauerte sich nieder und drückte die Augenlider der jungen Frau auf.
»Betäubt. Schaffen Sie einen Krankenwagen herbei, Prescott. Luke, Sie helfen mir, Kate auf die Beine zu stellen. Wir müssen versuchen, sie zum Gehen zu bringen.« Prescott rannte die Treppe hinunter. Frauenstimmen klangen herauf und fragten, was denn los wäre. Luke war verstummt. Mit vor Entsetzen starrem Gesicht half er Markby, Kates reglosen Körper vom Boden hochzuziehen. Sie hing zwischen den beiden Männern wie eine leblose Puppe.
»Kommen Sie, Kate!«, befahl Markby dicht an ihrem Ohr.
»Los jetzt, wir unternehmen einen Spaziergang. Kommen Sie schon …!«
»Es ist zwecklos!«, ächzte Luke. Noch während er sprach, gab Kate ein leises Stöhnen von sich, und ihr Kopf, der schlaff vornübergehangen hatte, rollte zur Seite.
»Braves Kind, weiter so!«, drängte Markby.
»Los jetzt, gehen Sie. Strengen Sie sich an!« Halb zerrten, halb stützten sie die junge Frau, als sie auf und ab ging. Das Stöhnen wurde lauter, dann hustete sie und verschluckte sich. Ihre Augenlider flackerten.
»Vielleicht sind wir noch rechtzeitig gekommen«, sagte Markby leise.
»Trotzdem, hoffentlich ist der Krankenwagen bald da!«
»Aber was hat sie denn genommen?«, fragte Luke. Er klang jung und verängstigt.
»Und warum hätte sie etwas nehmen sollen? Es war ein großartiges Abendessen! Wir waren alle glücklich und …«
»Ich nehme an, es ist ein Schlafmittel. Der Wein hat den Effekt beschleunigt.« Prescott kehrte schwer atmend zurück. Beim Anblick Kates, die schlaff zwischen den beiden Männern hing, sprang er vor, entschlossen zu helfen.
»Also gut, übernehmen Sie«, sagte Markby und schob Kates Arm zu Prescott.
»Halten Sie sie in Bewegung. Keine Sorge, mein Junge, sie hat eine gute Chance.« Markby hatte noch nicht ausgeredet, da ächzte Kate, würgte und übergab sich in hohem Bogen über den Sergeant.
»Gott sei Dank«, sagte Markby, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Sergeant war zwar besudelt, doch auch er war unübersehbar erleichtert. Wenige Augenblicke später traf der Krankenwagen ein. Die Sanitäter brachten Kate weg, und alle gingen nach unten ins Wohnzimmer. Es sah mehr oder weniger genauso aus, wie Markby es von seinem Kondolenzbesuch her in Erinnerung hatte, an jenem Morgen, an dem Andrews Leichnam gefunden worden war. Alles wirkte gemütlich und komfortabel. Im Kamin knisterte ein Holzfeuer. Das Cornwall-Gemälde hing über dem Sims. Die Onyxlampe brannte und warf ihr Licht auf Carla, die so still und zusammengekauert auf dem Sofa saß wie Kate zuvor oben vor ihrem Bett. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Frauen bestand darin, dass Kate geschlafen hatte und Carla so angespannt war wie eine Violinsaite. Meredith saß neben ihr. Sie legte ihr den Arm über die Schulter, als sie den Ausdruck in Alans Gesicht bemerkte.
»Mum …« Luke wollte zu seiner Mutter springen, doch Prescott erwischte ihn am Arm und hielt ihn fest. Markby zog sich einen Sessel heran und setzte sich vor Carla. Sie hob den Blick und starrte ihn aus großen, wilden Augen an.
»Es ist vorbei, Carla«, sagte er sehr sanft. Sie befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen und fragte mit einer tonlosen, sachlichen Stimme, die Markby Schauer über den Rücken jagte:
»Wird sie sterben?«
»Nicht, wenn du uns hilfst. Wir müssen ganz genau wissen, was sie genommen hat. War es das Schlafmittel, von dem du mir erzählt hast?«
»Sag nichts, Mum!«, redete Luke laut dazwischen.
»Nicht, bevor nicht ein Anwalt bei uns ist!« Markby drehte sich zu ihm um.
»Wenn das Krankenhaus weiß, womit Kate vergiftet wurde, dann kann man ihr ein Gegenmittel geben«, sagte er scharf. Luke sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Dann sagte er mit erstickter Stimme:
»Ja. Ja, natürlich. Mein Fehler. Sag es ihnen, Mum. Wenn du … du musst es ihnen sagen. Bitte!« Carla sah ihren Sohn über das Zimmer hinweg an, dann senkte sie den Blick. Ohne ein weiteres Wort steckte sie die Hand in ihre Crêpejacke und nahm eine kleine Flasche hervor. Sie hielt Luke die Flasche hin. Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Dann ging Luke wie ein Schlafwandler zu seiner Mutter und nahm die Flasche in seine breite Hand. Er starrte auf sie hinunter, als wüsste er nicht, was es war. Seine Finger zuckten, als wollte er sie zerquetschen. Markby wollte vortreten, doch Luke sah auf, und sein Blick wurde klar.
»Soll ich im Krankenhaus anrufen?«
»Warum nicht?«, entgegnete Markby. Luke ging nach draußen, und Sekunden später hörten sie seine Stimme draußen in der Halle, als er mit dem Krankenhaus telefonierte. Carla stieß einen Seufzer aus, und Meredith legte der anderen Frau sanft die Hand auf den Unterarm.
»Du hast das Richtige getan, Carla«, sagte sie.
»Luke musste es erfahren.«
»Ich dachte, sie würde einfach einschlafen«, sagte Carla beinahe unhörbar leise.
»Ich bin nicht grausam. Sie hätte nicht gelitten. Aber ich konnte es nicht länger ertragen. Sie hätte uns wehgetan. Sie wollte Andrews Geld. Sie hatte kein Recht auf irgendetwas von Andrew! Auf gar nichts! Sie hat Luke bereits den Vater weggenommen, und jetzt wollte sie ihm auch noch wegnehmen, was sein Vater ihm hinterlassen hat.« Mit fast kindlicher Ehrlichkeit fuhr sie fort:
»Ich habe das Schlafmittel in ihre Lasagne getan. Wir haben viel Wein getrunken, und das muss die Wirkung beschleunigt haben. Sie konnte schon am Tisch kaum noch die Augen aufhalten. Zum Glück schrieb sie es der Tatsache zu, dass sie zwei Nächte ohne Schlaf verbracht hatte, und Luke vermutete den gleichen Grund. Ich ging mit ihr nach oben und habe zugesehen, wie sie zu Bett gegangen ist. Sie war überglücklich, wissen Sie? Sie dachte, sie hätte gewonnen, hätte alles bekommen, was sie wollte.« Carlas Stimme wurde hart.
»Und das ist, was sie wollte. Alles!«
»Aber sie ist nicht einfach schlafen gegangen, Carla«, erwiderte Markby so schroff, dass Meredith zusammenzuckte.
»Sie wachte auf und merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sie versuchte aufzustehen und Hilfe zu holen. Ihre letzten wachen Augenblicke waren voller Angst und Entsetzen!« Carla zuckte zusammen, doch Markby ließ nicht locker.
»Sie haben versucht, Kate Drago zu töten, Mrs Penhallow. Sie haben es versucht, und Sie können von Glück sagen, dass wir sie rechtzeitig gefunden haben und Ihr Plan nicht aufgegangen ist.«
»Aber warum hätte ich denn nicht versuchen sollen, Kate zu töten?«, entgegnete Carla mit leiser, gepresster Stimme.
»Sie hat alles zerstört! Selbst Lukes Erinnerungen an seinen Vater sind besudelt! Warum hätte ich nicht für Gerechtigkeit sorgen sollen?«
»Carla?«, fragte Meredith.
»Ich verstehe das nicht. Willst du damit andeuten, dass Kate deinen Mann ermordet hat?« Während sie ihre Frage stellte, bemerkte sie Luke draußen im Flur. Er saß auf der untersten Treppenstufe und ließ den Kopf hängen. Carla bemerkte ihn ebenfalls. Ihre Augen blieben starr auf der stillen, zusammengekauerten Gestalt ihres Sohnes haften, während sie antwortete.
»Nein, Kate hat ihn nicht umgebracht, das war ich.« Sie warf den Kopf herum und sah Markby an.
»Das ist es, was Sie sagen werden. Andere werden bezeugen, dass es stimmt. Doch alles Anständige in Andrew war bereits tot. Es war schon seit Jahren tot. Er hat an niemanden gedacht außer an sich selbst. Er hatte kein Mitleid. Er hatte keine Ehre.« Sie beugte sich vor, und ihre Stimme wurde zu einem giftigen Zischen.
»Wenn ich auf eine Küchenschabe treten würde, wäre es nichts anderes!« Wie schade, dachte Markby, dass sie das vor Gericht bestimmt nicht sagen wird.
KAPITEL 19
ES WAR feucht unter den Bäumen. Die dichte Vegetation hielt den Wind ab, und das Blätterdach hatte den Mulch des vergangenen Herbstes vor dem Verrotten bewahrt, denn er lag immer noch unverwest auf dem Weg. Unter einem moosigen Baumstamm wuchsen Schlüsselblumen, die ersten, die Meredith dieses Jahr zu sehen bekam, und sie zeigte sie Alan.
»Das beweist, dass wir Frühling haben, endlich richtigen Frühling, nicht nur ein Datum im Kalender.« Meredith hatte wenig von ihm gesehen seit jenem ereignisreichen Besuch auf Tudor Lodge. Sie hatten nicht über das gesprochen, was sich ereignet hatte. Meredith wusste aus Zeitungen und von dem Gerede der Leute in der Stadt, dass Carla Penhallow in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war, dass Kate Drago sich erholt hatte und auch Harry Sawyer über den Berg war. Die Meinung der Einheimischen betreffend Carla war zwiespältig, doch was Harry Sawyer anging, sagten alle das Gleiche. Harry war einer von ihnen. Er hatte seine Fehler, wie Mrs Crouch es nannte, doch er war ein fleißiger Mann, und niemand verdiente es, bei lebendigem Leib in seinem Bett zu verbrennen, oder? Meredith musste an Harry denken, daher fragte sie nun:
»Macht er immer noch Fortschritte? Ich schätze, er wird noch eine ganze Weile im Krankenhaus liegen müssen, der Ärmste.« Alan nickte.
»Zusätzlich zu den Verbrennungen und den Schäden an seiner Lunge vom Rauch hat er ein schlimmes Trauma erlitten. Wir konnten bisher immer nur ganz kurz mit ihm reden. Wir waren allerdings im Stande, die wesentlichen Fakten von ihm zu bekommen. Er hat sie natürlich gesehen in jener tödlichen Nacht. Er hat sogar gesehen, wie Carla ihren Mann niedergeschlagen hat. Er ist über die Mauer geschlichen, um den Weg zur Hintertür von Tudor Lodge abzukürzen. Er hat auf eine Gelegenheit gehofft, noch einmal mit Andrew über das Stück Land zu sprechen. Im Garten angekommen sah er, dass ihm ein anderer Besucher zuvorgekommen war. Kate Drago stand am Küchenfenster und spähte heimlich von draußen ins Haus. Sawyer erkannte, dass irgendetwas im Gange war, also wartete er im Schatten, um zu sehen, was Kate vorhatte. Er hat nicht gehört, wie der junge Sammy Joss hinter ihm ebenfalls über die Mauer geklettert kam und wieder verschwand. Harry muss ein Geräusch gemacht haben, das ihn verriet, denn irgendwie bemerkte Kate, dass noch jemand anderes außer ihr im Garten war. Sie erschrak und ergriff die Flucht. Harry ging zum Fenster und warf nun seinerseits einen Blick in die Küche. Er sah Andrew und hielt die Gelegenheit für gekommen, mit ihm zu reden. Er klopfte ans Fenster. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich drinnen die Tür zur Halle, und Harry erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Frau in einem blauen Morgenmantel. Andrew hatte Harrys Klopfen gehört und war offensichtlich der Meinung, es sei von der Tür zum Garten gekommen, denn er ging hin, um zu öffnen. Er hatte nicht bemerkt, dass er nicht mehr alleine in der Küche war.« Markby verstummte und sah Meredith an.
»Carla trug einen blauen Hausmantel aus Chenille. Wir fanden blaue Fasern unter Andrews Fingernägeln. Die Gewebeproben sind identisch.«
»Das wird der Jury sicherlich gefallen«, sagte Meredith und war überrascht über die Bitterkeit in ihrer eigenen Stimme.
»Eindeutige forensische Beweise, dass die Angeklagte am Ort des Verbrechens war.« Sie schüttelte den Kopf.
»Es tut mir Leid.« Er sah sie besorgt an.
»Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Aber ich will ehrlich sein, wir hatten Glück, dass wir das fragliche Kleidungsstück in die Hand bekamen. Carla hat versucht, es verschwinden zu lassen, indem sie es zusammen mit anderen Sachen in eine Altkleidertüte packte, die sie Irene Flack schenkte. Doch Irenes Wagen ist gegenwärtig nicht fahrtüchtig, also ließ sie den Altkleidersack in der Abstellkammer stehen, wo wir ihn gefunden haben. Carla hat den Morgenmantel zwar gewaschen, trotzdem hoffen wir, dass die Spurensicherung Blut nachweisen kann.« Meredith schwieg. In einem Beet nahebei wuchsen weitere Schlüsselblumen, doch sie hatten ihren Charme verloren.
»Carla für ihren Teil hat sich auf ihren Ehemann konzentriert«, fuhr Markby fort, während er Meredith immer noch beobachtete.
»Deswegen hat sie Harry am Fenster nicht bemerkt. Andrew hingegen hat, wie ich bereits sagte, nicht bemerkt, dass seine Frau in den Raum gekommen war. Für Harry waren drei Leute einer zu viel. Er änderte seine Meinung und zog sich hastig in den Schutz der Büsche zurück, bevor Andrew die Tür öffnen und ihn bemerken konnte. Von dort aus beobachtete er, wie Andrew nach draußen kam und Kates Namen rief. Dann sah er, wie Carla sich von hinten an ihren Mann heranschlich. Sie hielt einen, wie Harry es nennt, Holzhammer in der Hand. Er sah, wie sie zuschlug und wie Andrew zu Boden ging …«
»Hätte er denn nicht eingreifen können?«, unterbrach ihn Meredith entrüstet.
»Er war starr vor Entsetzen, sagt er, und ich glaube ihm. Er glaubte, sie wäre übergeschnappt. Vielleicht war sie das auch zu diesem Zeitpunkt. Dies zu entscheiden ist Sache der psychiatrischen Gutachter. Jedenfalls, sie kehrte ins Haus zurück und schloss die Küchentür. Das Licht ging aus. Harry schlich sich zu der Stelle, wo Penhallow lag. Im Mondlicht konnte er nicht genau sehen, wie es um Andrew bestellt war. Er suchte an seinem Handgelenk und an der Schläfe nach einem Puls und fand keinen. Er bemerkte allerdings, wie viel Blut an Andrews Kopf war und dass er seine Hände damit besudelte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nur Angst gehabt. Jetzt geriet er völlig in Panik. Er wollte den am Boden liegenden Mann nicht mehr berühren. Soweit er feststellen konnte, war Penhallow tot. Harry wollte nicht bei einem Leichnam oder mit dem Blut eines Toten an den Händen oder auf seiner Kleidung gefunden werden. Er hätte erklären müssen, was er im Garten von Tudor Lodge gesucht hatte. Er hätte beschuldigt werden können, Penhallow getötet zu haben. Er hätte, wie einige Leute gesagt hätten, mit Penhallow im Streit gelegen wegen des Grundstücks, und der Polizei hätte das vielleicht als Motiv gereicht. Menschen wurden aus geringeren Anlässen ermordet. Also tat Harry das, was kurze Zeit zuvor Sammy Joss getan hatte. Er zog sich hastig über die Mauer zurück und ging nach Haus. Irene Flack hörte ihn kommen. Sie dachte, er wäre in seiner Werkstatt gewesen. Er arbeitet häufig bis spät in die Nacht. Irene hat Andrews letzten Schrei gehört, doch sie hat ihn nicht als Schrei erkannt und geglaubt, es wäre das Quietschen von Harrys Werkstatttür.«
»Sawyer hätte trotzdem Hilfe herbeirufen können, über das Telefon, anonym!«, stieß plötzlich Meredith hervor.
»Vielleicht hätte Andrew gerettet werden können! Aber er hat Andrew dort liegen und sterben lassen! Es tut mir Leid, was hinterher mit Sawyer passiert ist, aber hätte er gleich das Richtige getan, würde er jetzt vielleicht nicht im Krankenhaus liegen!«
»Du hast wahrscheinlich Recht, aber hinterher sind wir immer schlauer«, stimmte Alan ihr zu.
»Zu jenem Zeitpunkt war Harrys Selbsterhaltungstrieb einfach stärker. Harry saß in der Klemme. Er beharrt darauf, dass er Andrew tot geglaubt hat.« Alan strich mit seinem Spazierstock über einen Busch frostgeschwärzter Nesseln.
»Der hat meinem Vater gehört, weißt du?«
»Das hast du mir schon einmal erzählt.«
»Ja, habe ich. Nun ja. Später jedenfalls fand Harry wieder zur Vernunft und erkannte, dass er diese Angelegenheit zu seinem Vorteil ausnutzen konnte. Jedenfalls bildete er sich das ein. Harry weiß alles über das Werkstattgeschäft, aber er ist ein einfacher Mann, und er war nie einer Frau wie Carla begegnet. Es führte dazu, dass er sie unterschätzte. Er setzte sich mit ihr in Verbindung und deutete an, dass er über Informationen verfügte, die sie ganz bestimmt nicht in den Händen der Polizei wissen wollte. Ein klassischer Erpressungsversuch und ein klassischer Fehler! Man kann einen Mörder nicht erpressen. Ein Mörder hat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Carla erkannte, dass Harrys Worte nur eines bedeuten konnten: Irgendwie hatte er die Wahrheit herausgefunden. Sie musste wissen, was genau er wusste und ob er jemand anderen in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Also verabredete sie sich mit Harry, heimlich, nach Einbruch der Dunkelheit, draußen im Garten. Sie hatte die Alarmanlage ausgeschaltet, aber sie wollte nicht durch die Tür, aus Furcht, jemand könnte von innen zusperren. Also kletterte sie aus dem Fenster. Harry berichtete ihr, was er gesehen hatte. Und dann sagte dieser Idiot, er würde alles vergessen, wenn sie ihm das Land verkaufte. Carla erwiderte, dass sie sicherlich zu einer Einigung kommen würden, doch sie müsse erst Luke überreden. Harry ging glücklich nach Hause, in dem Glauben, einen cleveren Schachzug gemacht zu haben. Doch Carla war zu dem Schluss gekommen, dass es zu gefährlich war, Harry am Leben zu lassen. Sie hatte sich ein wenig Zeit verschafft und benutzte sie, um darüber nachzudenken, wie sie sich Harry vom Hals schaffen konnte. Sie wusste, dass sein Bungalow wie Zunder brennen würde. Schließlich ist sie von Beruf Chemikerin, und bevor sie zum Fernsehen ging, arbeitete sie in einer Forschungsabteilung des Verteidigungsministeriums. Es war nicht schwer für sie, einen Brandsatz mit einem Zeitzünder zu basteln, der ihr gestatten würde, nach Tudor Lodge zurückzukehren, bevor das Feuer ausbrach. Sie verließ sich darauf, dass Sawyers alter Hund stocktaub war und nicht anschlagen würde, während sie sich an Harrys Hintertür zu schaffen machte und den Brandsatz installierte. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Flammen ausbreiten würden, sollten jede Flucht Harrys erfolgreich verhindern.«
»So kaltblütig wie ihr Versuch, Kate zu töten«, sinnierte Meredith.
»Aber Andrew? Sie hat ihn geliebt! Nichts wird mich dazu bringen zu glauben, dass sie ihn töten wollte. Sie muss wirklich durchgedreht sein, als es passiert ist.«
»Sie hatte das stärkste Motiv von allen«, sagte Alan.
»Kate und Sawyer brauchten Andrew Penhallow lebend, um zu bekommen, was sie wollten. Doch der lebendige Andrew stand im Begriff, Carlas und Lukes Welt zu zerstören, jedenfalls glaubte sie das. Zugegeben, sie liebte ihren Mann, doch er hatte sie betrogen, und sie liebte ihr Kind noch mehr.«
Die Vernehmung war noch frisch in seinen Gedanken, und er war sicher, dass er sie niemals vergessen würde. Sie hatten im gleichen Raum gesessen, in dem sie auch mit Kate Drago gesprochen hatten, nur dass diesmal Carla Penhallow auf dem unbequemen Stuhl Platz genommen hatte und ihr Anwalt neben ihr.
Markby kannte ihn nicht. Er kam aus London, dickleibig, in einem maßgeschneiderten Saville Row, mit Seidenkrawatte und silbernen Schläfen. Seine Hände hatten auf dem Aktenkoffer gelegen, weiß, glatt, manikürt. Er trug einen Siegelring und eine goldene Rolex am Handgelenk. Wahrscheinlich die Sorte von Anwalt, die Freddie Green eines Tages zu sein hoffte. Markby hatte erwartet, dass Carlas Geschichte eine subtile Veränderung erfahren würde, und er wurde nicht enttäuscht. Der Anwalt bestand darauf, dass seine Mandantin unter unerträglichem Stress zusammengebrochen war. Was auch immer sie getan haben mochte, es war geschehen im Zustand vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit. Sie war weder verantwortlich für das, was sie getan hatte, noch für irgendetwas, das sie in der Nacht ihrer Verhaftung gesagt hatte.
Was Carla selbst anging, sie schien ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. Markby gewann den Eindruck, als hätte sie einfach abgeschaltet. Er glaubte nicht, dass es gespielt war. Vielleicht hatte sie am Schluss tatsächlich den Verstand verloren. Doch das zu entscheiden oblag nicht ihm. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, ihre Aussage zu bekommen.
Carla erzählte ihnen wie zuvor Meredith, wie sie herausgefunden hatte, dass Andrew eine Geliebte und ein Kind hatte.
»Aber ich beließ es dabei, wegen Luke. Der Junge hat seinen Vater geliebt und ihm vertraut, und ich glaube, Andrew hat uns beide geliebt, mehr als die andere und ihr Kind, mehr als Helen Drago und ihre Tochter Kate. Wenn nicht, hätte er uns längst verlassen. Doch er blieb bei uns, er hatte seine Wahl getroffen.« Carla verstummte und trank einen Schluck Wasser. Der Anwalt beobachtete sie unablässig. Er war bereit, jederzeit einzuschreiten und die Vernehmung beim leisesten Anzeichen von Stress zu stoppen. Markby hoffte, dass Carla nicht zusammenbrach. Carla sprach weiter, zuerst ganz ruhig, doch nach und nach wurde sie lebhafter.
»Vor etwa einem Jahr änderte sich die Situation dramatisch. Nichts wurde gesagt, doch ich erkannte, dass irgendetwas geschehen sein musste. Andrew war nervös, verhielt sich eigenartig, ganz anders als für gewöhnlich. Er war verdrießlich, besorgt bis hin zur Niedergeschlagenheit, doch er weigerte sich, dies einzugestehen oder mit mir darüber zu sprechen. Stattdessen suchte er Zuflucht in einer grauenvollen falschen Heiterkeit, und der arme Andrew war noch nie ein guter Schauspieler. Ich wusste instinktiv, dass es irgendetwas mit der anderen Frau in Cornwall zu tun haben musste. Ich fuhr nach Cornwall, sobald er wieder in Brüssel war, und hörte mich ein wenig um. Ich fand heraus, dass sie gestorben war, seine Geliebte. Das war also der Grund für seine Niedergeschlagenheit. Mein erster Gedanke war, zugegebenermaßen selbstsüchtig, dass es endlich vorüber wäre. Sie war tot und aus dem Weg, ein für alle Mal. Dann fiel mir das Mädchen ein, und es gelang mir, sie aufzuspüren. Das Geschäft ihrer Mutter war geschlossen, doch im Schaufenster standen immer noch Dinge zum Verkauf, und ich sah, wie jemand im Laden aufräumte und sauber machte. Ich gab mich interessiert, bis sie mich bemerkte und nach draußen kam, um mir mitzuteilen, dass das Geschäft nicht mehr geöffnet hätte. Ich glaube nicht, nein, ich bin sicher, dass sie nicht wusste, wer ich war. Sie sah mich nicht genau an, doch ich hatte mir auch viel Mühe gegeben, mein Aussehen zu verändern. Ich trug eine Perücke und eine dunkle Sonnenbrille.« Carla lächelte schwach bei der Erinnerung.
»Genau wie die Spione in den Thrillern! Aber eine Perücke macht eine Menge aus. Ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie Helen Dragos Tochter war. Sie sah aus wie ihre Mutter – oder wie ihre Mutter vermutlich ausgesehen hatte, als ihre Affäre mit Andrew begann. Sie war wunderschön, trotz ihres kleinen, verschlossenen Gesichts. Sie erinnerte mich an ein gefangenes wildes Tier. Ich sah sofort, dass sie Ärger bedeutete. Trotzdem, solange Andrew sie aus dem Weg hielt, wie er es immer getan hatte, würden wir zurechtkommen. Ich vertraute darauf, dass er es schaffen würde. Schließlich …«, Carlas Stimme hatte einen verächtlichen Ton angenommen,
»… schließlich besaß er genügend Übung darin. Aber er hat es vermasselt. Er war ein Trottel, ein richtiger Trottel.« Der Anwalt rührte sich. Er war nicht sicher, ob es klug war, seine Mandantin weiterreden zu lassen.
»Nehmen Sie sich ruhig Zeit, Mrs Penhallow«, sagte Markby.
»Danke sehr«, sagte Carla Penhallow ernst.
»Nun ja, Anfang dieses Jahres fuhr ich für ein Wochenende nach Cambridge, um Luke zu besuchen. Er spielte Sonntagnachmittag Rugby, doch er bot mir an, die Party nach dem Spiel ausfallen zu lassen, um mit mir gemeinsam essen zu gehen. Selbstverständlich schlug ich sein Angebot aus. Ich war gekommen, um ihn spielen zu sehen, und danach sollte er ruhig zu seiner Party gehen, ich würde in mein Hotel zurückkehren. Wir würden uns am nächsten Tag zum Mittagessen Wiedersehen. Es war kalt unten am Spielfeldrand.« Carla lächelte schwach.
»Ich ging auf und ab, um mich warm zu halten. In diesem Augenblick sah ich sie …« Die Stimme der Sprecherin verriet die Bestürzung, die sie empfunden haben musste.
»Sie war mit ein paar anderen jungen Leuten da, doch es bestand kein Zweifel, auch wenn die Trauer aus ihrem Gesicht verschwunden war und sie lachte. Ich war wie vom Donner gerührt. Sie konnte unmöglich zufällig dort sein. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich saß bis zum nächsten Mittag auf heißen Kohlen, bis Luke zu mir ins Hotel kam, um mich zum Essen abzuholen. Doch er erzählte nichts über sie. Er hatte einen Kater, der Arme. Er sagte, es wäre eine großartige Party gewesen, aber er könnte sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Also dachte ich, gut, falls sie dort war, hat er sie vergessen.« Carla schüttelte den Kopf, und ihre kurzen blonden Haare flogen.
»Ich hatte übersehen, wie einfach es für sie gewesen sein muss, Andrew an der Nase herumzuführen. Ich vermute, sie hat auf sein Gewissen angespielt. Das war schon immer sein schwacher Punkt. An jenem Tag … dem Tag, als ich mit meiner Migräne nach Hause kam … die ich übrigens tatsächlich hatte. Ich hatte einen Migräneanfall. Ich ging zu Bett. Doch ich nahm kein Schlafmittel, ich schlief ohne ein, und als ich wieder wach wurde, waren die schlimmsten Symptome verschwunden. Ich war ein wenig benommen, mir war ein wenig übel, doch die Kopfschmerzen waren weg. Ich war erleichtert, denn manchmal dauern sie drei Tage an. Ich dachte, ich gehe nach unten und sage Andrew, dass ich mich besser fühle. Vielleicht konnten wir noch eine Tasse Tee zusammen trinken.« Sie biss sich auf die Lippe.
»Ich ging in die Küche. Andrew ging zur Hintertür und sah nicht, wie ich aus dem Flur hereinkam. Er öffnete die Hintertür und ging in den Garten hinaus. Ich war verwirrt, weil ich mir sein Verhalten nicht erklären konnte. Es war mitten in der Nacht. Er trug einen Morgenmantel und hielt eine Wärmflasche in der Hand. Dann sah ich … ich sah die Fotos auf dem Küchentisch. Sie waren auf jener Party nach Lukes Spiel entstanden. Sie zeigten Luke und Kate zusammen mit anderen. Dann hörte ich, wie Andrew ihren Namen rief! Er war draußen im Garten und rief Kate! Kate! und dass sie nach drinnen kommen solle, in unser Haus, in das Heim unserer Familie!« Der Anwalt tätschelte beruhigend ihren Arm.
»Können Sie noch weitermachen, meine Liebe?«, fragte er salbungsvoll. Zu Markbys Erleichterung nickte Carla Penhallow.
»Ja, keine Sorge, mir fehlt nichts.« Sie blickte auf und schien zum ersten Mal die versammelten Polizisten im Raum zu bemerken. Ihre Stimme wurde lauter und klarer.
»Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tat. Ich weiß, was ich getan haben muss, aber ich erinnere mich an nichts. Ich muss den Fleischhammer von der Wand genommen haben. Es ist ein großer, schwerer Fleischhammer. Ich habe ihn aus Soho mitgebracht, aus einem Küchenladen, vor vielen Jahren, als wir gerade geheiratet hatten und ich mir noch ein Leben im Haushalt vorstellte. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ich war draußen im Garten. Mir war kalt. Andrew lag am Boden, im Licht der Küchentür. Er rührte sich nicht. Ich merkte, dass ich den Hammer hielt. Ich beugte mich über ihn und sah das viele Blut und dass er tot war. Ich ging wieder nach drinnen. Ich war fassungslos. Ich musste ihn getötet haben. Ich verschloss die Tür und ging nach oben und saß vielleicht eine Stunde wie betäubt in meinem Zimmer. Dann bemerkte ich, dass mein Morgenmantel voller Dreck und Blut war. Also ging ich wieder nach unten und stopfte alles in die Waschmaschine und den Trockner. Danach packte ich die sauberen Sachen in einen Altkleiderbeutel für Irenes Handarbeitszirkel. Ich wusch den Hammer und hängte ihn wieder auf. Falls er verschwunden war, würde Irene es vielleicht bemerken. Ich verbrannte die Fotos. Es war inzwischen Morgen. Ich ging nach draußen und setzte mich zu seinem Leichnam und wartete darauf, dass Irene käme. Ich saß bei Andrew, weil ich ihn nicht alleine lassen wollte. Ich redete mit ihm, während ich dort saß. Ich erzählte ihm, wie schlecht er uns behandelt und wie falsch er sich verhalten hatte. Und ich weinte, weil ich ihn geliebt hatte und ihn immer noch liebte, aber er hätte uns nicht so behandeln dürfen.«
Schweigend lauschte Meredith der traurigen Geschichte. Bis Markby mit seinem Bericht fertig war, hatten sie den Waldrand erreicht. Hier gab es einen breiten Feldweg mit tiefen Reifenspuren, dahinter eine dünne Hecke und ein Viehgatter. Sie lehnten am Gatter, Seite an Seite, und blickten hinaus auf das hügelige Ackerland. Es senkte sich in ein weit ausgeschnittenes Tal, das auf der anderen Seite in einen weiteren Hügelkamm überging, ähnlich dem, den sie soeben überquert hatten. Ohne den Schutz der Bäume wehte ihnen ein frischer Wind über das freie Land entgegen.
Hoch über ihren Köpfen kreisten Krähen und stießen ihre misstönenden Schreie aus. Wenn der Landbesitzer starb, so wollte es der Brauch, dann war es wichtig, jeden Krähenhorst auf dem Land zu besuchen und es den Krähen zu berichten, erinnerte sich Meredith. Auch den Bienen. Wenn man den Bienen nicht Bescheid sagte, würden sie verschwinden. Der Tod brachte die Dinge durcheinander. Er bedeutete ein Ende der alten Ordnung, und die neue Ordnung war noch unbekannt. Die alte Ordnung auf Tudor Lodge war verschwunden, und die neue Ordnung, Luke und Kate – was würden sie daraus machen?
»Was mich verwirrt«, sagte Meredith,
»ist die Frage, warum sie so lange gewartet hat, bevor sie versucht hat, Kate zu ermorden. Wenn sie es früher versucht hätte, beispielsweise, nachdem sie Kate bei Lukes Rugbyspiel gesehen hat, hätte es mehr Sinn ergeben. Carla muss doch aufgefallen sein, dass Kate versucht hat, mit Luke bekannt zu werden. Doch sie hat gewartet, bis überall Polizei war und eine neue Ermittlung wegen Brandstiftung anfing.«
»Um ihr nicht unrecht zu tun«, sagte Markby,
»Carla ist von Natur aus keine Mörderin. Kates Ermordung zu planen, nachdem sie das Mädchen Anfang des Jahres bei einem Rugbyspiel gesehen hat, wäre kaltblütig gewesen. Sie konnte nicht abschätzen, wie Andrew auf den Tod seiner Tochter reagiert hätte. Also unternahm sie nichts und hegte weiter heimlich ihren Groll. Sie hoffte vermutlich, dass Andrew die Dinge regeln würde, wie er es bis dahin immer getan hatte. Erst als sie hörte, wie er im Garten Kates Namen rief und zu der Annahme gelangte, dass er Kate in das Haus der Familie einladen würde, ist sie durchgedreht.
Nachdem Andrew tot war, war die Katze aus dem Sack, was sein Doppelleben anging, und so ging es für Carla darum, den Schaden zu begrenzen. Sie nahm Kate in ihrem Haus auf, um die Presse von ihr fern zu halten und sie im Auge zu haben, während sie darüber nachdachte, was als Nächstes zu tun wäre. Und dann unterschrieb Kate ihr eigenes Todesurteil – oder besser, Freddie Green unterschrieb es für sie. Er legte vor Gericht Widerspruch gegen Andrew Penhallows Testament ein und beantragte Aussetzung von der Vollstreckung. Andrew war ein reicher Mann, und es gab genug zu verteilen, doch Carla sah das anders. Sie betrachtete das, was Kate tat, als einen Versuch, Luke um das Erbe seines Vaters zu betrügen. Da erst beschloss sie, dass Kate sterben musste. Hinterher hätte sie gesagt, Kate hätte gesehen, wo sie ihr Schlafmittel aufbewahrte, und alles auf einmal genommen. Es wäre eine plausible Geschichte gewesen, angesichts von Kates unbeständiger Persönlichkeit. Wir hätten es möglicherweise geglaubt.«
»Ich hatte es im Gefühl«, sagte Meredith leise.
»Ich wusste von Anfang an, dass Kates Einzug in Tudor Lodge Unheil nach sich ziehen würde.«
»Okay«, räumte Markby gezwungenermaßen ein.
»Du hattest Recht, und ich hatte Unrecht. Ich hätte es verhindern sollen. Aber ich habe nicht erwartet, dass noch jemand sterben würde! Ich habe einen elementaren Fehler begangen. Der erste Mord ist immer der schwere. Danach fällt es dem Mörder von Mal zu Mal leichter. Er hat nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen. Er fängt an, sich unbesiegbar zu fühlen. Ich habe es schon früher erlebt, und ich habe es nicht erkannt, als es in diesem Fall anfing.«
Beide verfielen in Schweigen. Meredith bemerkte Hülsen verschossener Schrotpatronen am Boden zu ihren Füßen, rote, grüne und blaue. Sie fragte sich, was der Bauer hier draußen schießen mochte, Tauben vielleicht, oder Kaninchen. Auf dem Land, in der freien Natur war der Tod etwas Alltägliches. Selbst das Vieh, das in einiger Entfernung weidete, klein wie Spielzeugtiere, war letztendlich für den Schlachthof bestimmt und würde eines Tages auf Tellern landen.
Unerwartet riss Alans Kichern sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie blickte überrascht auf.
»Ich musste gerade an die alte Lady denken, diese Mrs Joss«, sagte er.
»Sie hat gehört, wie Andrews Wagen weggefahren und zurückgekehrt ist, und das Licht der Scheinwerfer strich über ihr Fenster. Das war die Tour in die Stadt, bei der er Kate im Crown abgeliefert hat. Mrs Joss hat auch gehört, wie Irene Flack aus Bamford nach Hause gekommen ist. Der Motor gibt ein eigenartiges Geräusch von sich, das sie bereits kannte. Am nächsten Morgen erfuhr die alte Mrs Joss zu ihrem großen Schrecken, dass Andrew Penhallow in der Nacht in seinem Garten ermordet worden war. Die Josses leben in ständigem Konflikt mit dem Gesetz, und wenn etwas schief läuft, geraten sie allzu schnell in Verdacht. Mrs Joss wollte nicht glauben, dass einer ihrer Verwandten einen Mord begangen haben könnte. Doch sie musste befürchten, dass die Ermittlungen sich auf ihren Clan ausdehnten, und es bestand immer die Chance, dass einer der Josses etwas zu verbergen hatte. Also erzählte sie dem ersten Beamten, der zu ihrer Befragung kam, dass während der ganzen Nacht ständig Wagen gekommen und gegangen wären. Sie legte eine falsche Spur, um die Jäger fortzulocken. Als Prescott sie schließlich befragte, wurde rasch klar, dass sie nur dreimal einen Wagen gehört hatte. Das war wichtig, denn es bedeutete, dass der Mörder entweder zu Fuß gekommen sein musste oder bereits im Haus gewesen war. Die alte Lady sagte auch, verschroben wie sie ist, dass die Art und Weise, wie die Penhallows leben, den Ärger geradezu herausgefordert hat. Wenn ihr Ehemann ständig für lange Zeit unterwegs gewesen wäre, dann hätte sie wissen wollen, was er macht – genau das, was Carla schließlich ebenfalls interessiert hat. Mrs Joss vermutete, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, und sie hatte Recht. Wir haben übrigens Lemuel Joss angezeigt. Oder Lee, wie er sich zu nennen pflegt.«
»Was?«, rief Meredith überrascht aus.
»Was hatte er denn mit der Sache zu tun?« Erschreckt vom plötzlichen Lärm brach eine Taube aus einem nahebei stehenden Baum und flatterte flügelschlagend davon. Sie sauste tief über ihre Köpfe hinweg und landete im Feld hinter der Hecke, wo sie auf ihren kurzen Beinen einherstolzierte und protestierend gurrte. Der kurze, gedrungene Leib und der weiße Federkragen erinnerten Meredith an einen wohlgenährten Geistlichen.
»Mit dem Mord? Überhaupt nichts«, erklärte Markby.
»Doch im Verlauf der Ermittlungen haben wir ihn überprüft, genau wie seine Großmutter es befürchtet hat. Er ist der einheimische Hehler, ein Mittelsmann, der gestohlene Güter über Kontakte in der Bar vertreibt, wo er arbeitet. Alles ganz normale Sachen, gestohlene Fernseher oder Videorekorder und dergleichen mehr. Ich gehe nicht davon aus, dass er sich lange von seinem Tun abhalten lassen wird, nachdem wir ihn geschnappt haben. Er wird weitermachen und seine Palette nach und nach erweitern und Feuerwaffen und dergleichen verhökern. Wir müssen Lee Joss im Auge behalten.« Alan drehte sich um und lehnte sich an das Gatter.
»Damit wäre der Fall abgeschlossen. Der Rest ist Sache der Gutachter und der Staatsanwaltschaft. Meine Arbeit ist getan.« Er zögerte.
»Wir können endlich wieder an uns denken.« Meredith beugte sich vor, sodass ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, und es ärgerte sie, dass sie nicht imstande war, ein mädchenhaftes Erröten zu unterdrücken.
»Ich liebe dich«, sagte sie leise, mehr ein trotziges Murmeln als ein leidenschaftliches Bekenntnis.
»Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht so wäre.«
»Ich weiß, dass du es nicht tun würdest, und ich weiß, dass du mich liebst. Ich liebe dich ebenfalls. Deswegen frage ich mich ja ständig, was das Problem ist.« Er klang melancholisch. Er wusste ganz genau, dass es ein Problem gab, und er wusste wahrscheinlich auch ganz genau, was das für ein Problem war. Sie versuchte trotzdem eine Erklärung.
»Ich war immer auf mich allein gestellt, Alan. Ich musste nie jemandem gefällig sein, außer mir selbst. Bevor ich dich kennen gelernt habe, hatte ich nie jemanden, der mir geholfen hätte, wenn es eine Krise gab. Meine Eltern waren älter als die meisten anderen Eltern Gleichaltriger. Ich war immer gut befreundet mit ihnen. Aber ich hatte nie das Gefühl, als könnte ich ihnen mit meinen Problemen kommen. Also gewöhnte ich mich recht früh daran, selbst mit den Dingen zurechtzukommen. Ich habe nie gelernt, mein Leben mit jemand anderem zu teilen, Alan. Das ist etwas, das man lernen muss, weißt du? Es ist nicht instinktiv. Um ehrlich zu sein, ich glaube, ich bin einfach zu selbstsüchtig.«
»Du weißt, dass das Unsinn ist«, widersprach er sanft. Er schüttelte langsam und verwundert den Kopf, doch in seinen Augen las sie Resignation.
»Sag das nicht!« Sie hatte nicht so scharf reagieren wollen.
»Ich kann dir nicht das geben, was du von mir willst, Alan, und es tut mir aufrichtig Leid. Es hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun. Es hat nur mit mir selbst zu tun.«
»Vielleicht habe ich mehr Vertrauen in dich als du selbst«, schlug er mit schiefem Grinsen vor.
»Tu das nicht.« Ihre Worte hallten leer von den Baumstämmen hinter ihnen wider. In der sich anschließenden Stille wischte er mit seinem Gehstock durch die Luft, bis er mit einem Krachen das Gatter traf. Die Taube auf dem Feld ergriff erneut die Flucht.
»Ich schrecke alle ab«, sagte er leise.
»Die Taube. Dich.«
»Es ist nicht deine Schuld«, widersprach sie müde.
»Hör zu.« Er gab sich noch nicht geschlagen.
»Du hast selbst gesagt, dass du nicht mehr damit rechnest, einen weiteren Auslandsposten zu bekommen, also würde dich deine Arbeit nicht …«
»Das hat nichts mit meiner Arbeit zu tun!«
»Dann vielleicht mit diesem anderen Mann, diesem Mike?« Für einen Augenblick war Meredith sprachlos. Sie hatte Alan einmal, in einem unbesonnenen Moment, von jener längst vergangenen, gescheiterten Affäre erzählt. Sie hätte es besser gelassen. Sie hatte geglaubt, dass Alan zugehört und die Geschichte unter verlorenen Fällen abgelegt hatte, wie sie in jedermanns Leben vorkamen. Er selbst hatte eine geschiedene Ehe hinter sich, sie eine gescheiterte Liebesbeziehung. Doch er hatte ihre Geschichte nicht so leicht abgetan. Zu ihrem Entsetzen hatte er auf seine Weise darüber gebrütet, und nun kam sie aus heiterem Himmel in ihr Leben zurück und machte alles noch schlimmer.
»Nein, natürlich nicht!«, protestierte sie.
»Es ist … es ist schon lange her, vergessen und vorbei! Ich war noch ein Kind! Ich bin nicht mehr die gleiche Frau wie damals!« Der Wind raschelte in den Blättern hinter ihnen. Alan klemmte sich den Gehstock unter den Arm.
»Bitte entschuldige. Ich hätte dir kein Ultimatum stellen dürfen. Ich hatte kein Recht dazu. Du hast jedes Recht, mich abzuweisen. Es wäre ungehörig von mir, weiter darauf zu beharren.«
»Du musst dich um Himmels willen nicht entschuldigen!« Sie starrte ihn entsetzt an.
»Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte, und ich suche nach einem Weg! Es hilft mir nicht im Geringsten, wenn du so nett und freundlich bist!«
»Wäre dir vielleicht lieber, wenn ich die Fassung verlieren und ein wenig herumschreien würde?« Auf seinem Gesicht stand ein merkwürdiger Ausdruck.
»Ja«, gestand sie.
»Ich würde mich bestimmt besser fühlen.«
»Meinst du«, begann er vorsichtig,
»dass du vielleicht irgendwann später anders darüber denkst?«
»Ja, kann schon sein. Aber ich kann nicht in die Zukunft sehen, deswegen kann ich es nicht beschwören.«
»Ich akzeptiere das. Solange du es nicht für immer ausschließt.« Er ist halsstarrig, dachte Meredith. Ihr war nach Weinen und Lachen gleichzeitig zumute. Er wird nicht aufgeben. Vielleicht wird er es, eines Tages, wie Carla gewarnt hat. Vielleicht wartet er nicht bis in alle Ewigkeit.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie. Ihr war plötzlich aufgegangen, dass sie nicht den leisesten Schimmer hatte, wie es von nun an weitergehen sollte.
»Kurzfristig? Suchen wir uns ein anständiges Pub, wo wir essen können. Langfristig? Warten wir’s ab und sehen, was kommt.« Sie nahmen sich an den Händen und spazierten gemeinsam über den Feldweg davon.
KAPITEL 20
STEVE PRESCOTT stand unter dem Vordach von Tudor Lodge wie ein viktorianischer Freier, eine Mischung aus Hoffnung, Schüchternheit und heimlicher Entschlossenheit, dass er sich, sollte es zum Schlimmsten kommen, wie ein Gentleman verhalten würde. Er trug keinen Hut, doch hätte er einen getragen, würde er nervös mit der Krempe gespielt haben. Soweit es die Polizei betraf, war die Angelegenheit Tudor Lodge bis zur Gerichtsverhandlung vorüber. Alles lag nun in den Händen anderer, der Staatsanwaltschaft, der Anwälte, medizinischen Experten und Gott weiß wem noch alles. Für Steve Prescott war es noch nicht vorbei. Für ihn gab es immer noch eine unerledigte Aufgabe. Er hob die Hand zur Klingel und hörte das drängende Summen im Innern des Hauses. Er wusste nicht, wer ihm öffnen würde, doch er hoffte darauf, dass es Kate war, weil es ihm peinlich gewesen wäre, sich jemand anderem gegenüber erklären zu müssen. Doch die Aussicht, Kate gegenüberzutreten, konnte nicht nur Verlegenheit bedeuten, sondern darüber hinaus Demütigung. Um bei der Wahrheit zu bleiben, sie hatte ihm niemals ein Zeichen der Ermutigung gegeben, und er verhielt sich wahrscheinlich wie der letzte Idiot, indem er hierher kam. Doch er konnte nicht anders. Er musste es wissen. Er betätigte erneut den Summer. Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und eine atemlose, entrüstete Mrs Flack stand Prescott gegenüber.
»Ich war auf dem Weg, junger Mann! Ich bin schließlich nicht taub! Was wollen Sie?« Es schien offensichtlich, dass sie ihn erkannt hatte und davon ausging, dass er dienstlich gekommen war. Er nahm nicht an, dass sie Besucher normalerweise auf diese Art begrüßte.
»Ich möchte bitte mit Miss Drago sprechen, falls sie da ist«, sagte er fest. Mrs Flack musterte ihn von oben bis unten.
»Ich hoffe doch, dass es nicht noch mehr Vernehmungen und Scherereien geben wird, oder? Ich dachte, wir hätten das alles endlich hinter uns?«
»Es ist eine private Angelegenheit«, erwiderte Prescott und lief rot an. Was ihm einen erneuten kritischen Blick einbrachte.
»Aha?«, machte Mrs Flack auf die denkbar vielsagendste Weise.
»Ich werde sehen, ob sie zu sprechen ist. Sie ist nämlich mit Packen beschäftigt.«
»Sie packt?«, rief Prescott alarmiert. Mrs Flack erbarmte sich seiner.
»Kommen Sie doch herein. Ich gehe Miss Drago fragen, ob sie kurz nach unten kommt.« Er stand in der Halle und sah ihr hinterher, wie sie entschlossen nach oben stapfte. Während er wartete, blickte er sich um, und sein letzter hektischer Besuch auf Tudor Lodge fiel ihm ein, zusammen mit Superintendent Markby und Miss Mitchell, Kate, wie sie am Boden gelegen hatte, die dramatische Szene im Wohnzimmer mit Carla Penhallow und Luke. Luke war nirgendwo zu sehen, und Prescott war froh darüber. Er verspürte keinen Wunsch, den Jungen zu beunruhigen, und allein der Anblick des Police Sergeants würde dazu reichen. Von oben erklangen Stimmen, und Prescott hob lauschend den Kopf. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Schritte, zu schwer, um von Kate zu sein. Mrs Flack kehrte zurück.
»Sie kommt gleich nach unten«, sagte sie.
»Warten Sie einfach hier, ich bin in der Küche, falls Sie mich brauchen.« Prescott nickte stumm. Sein Hals fühlte sich an, als steckte ein Kloß darin. Er sah ihr hinterher, als sie durch die Halle nach hinten ging und in der Küche verschwand. Abgelenkt verpasste er den wichtigsten Augenblick von allen, nämlich Kates Eintreffen. Ohne Vorwarnung hörte er ihre Stimme ganz nah bei seinem Ohr.
»Hallo?« Er wirbelte herum und sah sie auf dem unteren Treppenabsatz stehen, wo sie über das Geländer gelehnt zu ihm heruntersah. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter über dem seinen, als er aufblickte. Die Spitzen ihrer prachtvollen Haare streiften über seinen Kopf, und es fühlte sich an, als würde eine elektrische Ladung durch ihn hindurchfahren.
»Hallo«, antwortete er heiser. Sie sagte nichts, sondern wartete ab. Er war gezwungen weiterzureden.
»Ich bin vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«
»Mir geht es gut – jedenfalls angesichts der Umstände. Macht die Polizei immer hinterher Anstandsbesuche?«
»Das hat nichts mit der Polizei zu tun!« Prescott war plötzlich ärgerlich.
»Ich bin aus eigenem Antrieb hier. Ihretwegen, heißt das.« Sie richtete sich auf und kam die restlichen Stufen herunter zu ihm. Nun musste sie zu ihm aufblicken, und er sah zum ersten Mal, wie klein sie in Wirklichkeit war. Ihre unglaubliche Persönlichkeit hatte sie irgendwie immer größer erscheinen lassen, als sie tatsächlich war. Doch nun sah sie so zerbrechlich aus wie eine von jenen Porzellanfiguren auf Großmutter Josses Kaminsims. Dann begegnete er ihrem direkten, resoluten Blick, und schon war er es wieder, der sich klein und unbedeutend fühlte.
»Ich brauche niemanden, der hinter mir herrennt und mich fragt, wie es mir geht!«, sagte sie scharf.
»Mir geht es bestens, das habe ich Ihnen bereits gesagt. Man hat mir im Krankenhaus ein Gegenmittel gegeben. Ich bin wieder fit – und ich habe zu tun, also wenn es nichts Wichtiges ist …« Er schluckte.
»Die Haushälterin hat gesagt, Sie würden packen … bedeutet das, dass Sie abreisen?« Sie stieß ein ungeduldiges Zischen aus.
»Ja.«
»Sofort? Heute noch?« Er wollte nicht erschreckt klingen, doch er wusste, dass es genauso bei ihr ankam.
»Hier gibt es nichts, das mich halten könnte.« Falls sie sich der Grausamkeit dieser Worte bewusst war, dann zeigte sie es nicht.
»Ich bin nur nach Tudor Lodge zurückgekommen, um meine Sachen zu holen. Ich kann gar nicht schnell genug von hier verschwinden, glauben Sie mir.« In ihrer Stimme schwang Bitterkeit, und er glaubte, sie zu verstehen. Sie war mit solchen Hoffnungen hergekommen. Genau wie er. Auch er war mit Hoffnungen hergekommen.
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, mit mir essen zu gehen oder sonst irgendwas.« Es klang lahmer, als er gewollt hatte, also fügte er mit einer Spur von Aufsässigkeit hinzu:
»Ich bin nicht nur Polizist, wissen Sie?« Er wurde mit einem Grinsen belohnt, doch bevor er es als Ermutigung auffassen konnte, schüttelte sie den Kopf.
»Danke. Ich weiß es zu schätzen, was Sie und Markby für mich getan haben an jenem Abend, als Carla versucht hat, mich zu erledigen. Aber ich möchte Bamford und alles, was damit zu tun hat, einfach nur vergessen. Können Sie das verstehen?« Er verstand sie nur zu gut. Er konnte es ihr nicht verdenken, trotzdem senkte sich ein kalter Nebel aus Depression auf ihn herab.
»Kann ich Sie dann vielleicht zum Bahnhof mitnehmen oder so?« Selbst das wurde ihm verweigert.
»Nicht nötig«, hörte er sie sagen. Ihm kam ein Gedanke.
»Hey, Sie haben doch wohl nicht vor, wieder per Anhalter zu fahren?« Sie brachte ihr blasses Gesicht ganz nah an das seine.
»Hören Sie, das ist mein Leben! Ich habe fürs Erste genug von der Polizei! Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was ich auch mache, es geht Sie überhaupt nichts an, haben Sie verstanden? Es ist noch gar nicht so lange her, da haben Sie alle geglaubt, ich hätte meinen Vater ermordet!«
»Das habe ich nie!«, begehrte Prescott auf. Ihr Verhalten wurde sanfter.
»Nun ja, dafür bin ich Ihnen auch dankbar.« Ohne Vorwarnung streckte sie die Hand aus und nahm seine.
»Fahren Sie. Es war nett von Ihnen vorbeizukommen, aber es ist völlig sinnlos, begreifen Sie das?«
»Ich weiß«, sagte Prescott.
»Viel Glück. Passen Sie auf sich auf.« Er beugte sich vor und gab ihr einen Freundschaftskuss auf die Wange. Er wusste überhaupt nicht, was über ihn gekommen war, und die Verwegenheit seines Tuns überraschte ihn. Sie öffnete schweigend die Tür. Er brachte ein schwaches Lächeln zu Stande, dann ging er an ihr vorbei und nach draußen.
Viel später an jenem Nachmittag, als das Licht bereits schwächer wurde und die Luft kühl, schwang Kate Drago ihren Proviantbeutel über die Schulter und wandte sich von dem Lieferwagen ab, dessen Fahrer sie soeben – vergebens – um eine Mitfahrgelegenheit gebeten hatte. Es war eine weitere knappe, unfreundliche Absage gewesen, genau wie bei den anderen fünf Lastwagen, die auf dem Parkplatz standen.
Es war nicht der gleiche Parkplatz wie der, auf dem sie Eddie Evans begegnet war, doch die Anlage war fast identisch, und es gab ebenfalls einen Imbisswagen, wo die gleiche Kundschaft fettige Würstchen und Hamburger und Tassen teerigen Tees kaufen konnte. Es hatte viel länger als erwartet gedauert, bis hierher zu kommen, und falls sie nicht bald eine Mitfahrgelegenheit über eine größere Strecke erhielt, würde sie nicht vor Einbruch der Nacht zu Hause sein.
Sie wusste natürlich, woran es lag. Sie hätte es vorhersehen können. Sie hatte niemandem ihren Namen verraten, und niemand hatte ihr Foto, doch das war auch gar nicht nötig. Fernfahrer hatten ein effizientes Nachrichtensystem, und sie alle wussten, wer sie war. Sie war eine Unglücksbringerin, die das Stigma gewaltsamen Todes mit sich trug. Sie würde darauf warten müssen, dass ein privater Wagen sie mitnahm, und sie fuhr nur ungern in Personenwagen mit. Fernfahrer waren sicherer, ihrer Erfahrung nach. Natürlich bestand immer das Risiko, an den Falschen zu geraten, doch im Allgemeinen hatten Fernfahrer enge Zeitpläne und Familien zu Hause, Aufträge und Jobs, die gefährdet waren, und sie wollten keinen Ärger. Und weil sie keinen Ärger wollten, nahmen sie Kate diesmal nicht mit.
Sie ging erhobenen Hauptes und stolz aufgerichtet davon. Je schwieriger die Dinge wurden, desto mehr musste man sich verhalten, als gehörte einem die ganze Welt und als gäbe man einen Dreck darauf, was andere taten oder dachten. Diese Erfahrung hatte sie schon vor langer Zeit gemacht. Wie ein kranker Wolf, der Schwäche zeigte. Das Rudel ringsum roch die Angst, und man war erledigt.
Sie verließ den schützenden Parkplatz und wanderte am Straßenrand entlang. Es war eine grasbewachsene Bankette, nicht für Fußgänger gedacht. Ein Stück weit voraus verlor sich der Trampelpfad im hohen Gras, und sie musste auf dem Asphalt laufen. Es war selbst bei hellem Tageslicht nicht ungefährlich und in der Dämmerung oder gar bei Nacht Selbstmord. Vielleicht, wenn sie Glück hatte, kam sie an einer Bushaltestelle vorbei. Sie würde auf den planmäßigen Bus warten und einsteigen, ganz gleich, wohin er fuhr.
»Ich kann hinfahren, wohin ich will!«, murmelte sie leise. Weil niemand sich scherte, wohin sie fuhr oder was sie machte oder was aus ihr wurde. Es war in gewisser Weise Freiheit, oder völlige Isolation, je nachdem, von welchem Standpunkt man es betrachtete. Ihr Plan, oder ihre Absicht besser gesagt, war London. Sie würde wieder zum College gehen und ihren Abschluss machen – vorausgesetzt, Freddie erstritt das notwendige Geld aus dem Penhallow’schen Erbe, um ihr den Besuch des Colleges zu ermöglichen.
Ein Wagen nach dem anderen jagte vorbei, doch niemand hielt an. Sie streckte den Daumen nicht heraus. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter war sie den Tränen nahe.
Endlich verlangsamte ein Wagen seine Fahrt und lenkte an den Straßenrand, ein kleines Stück vor ihr, wo er wartete. Sie näherte sich vorsichtig in einer Mischung aus Hoffnung und Groll und bückte sich zum Beifahrerfenster hinunter.
Der Fahrer beugte sich zur Seite und kurbelte die Scheibe herab.
»Mein Gott, Kate, ich dachte schon, ich finde dich nie mehr!«
»Luke?« Sie war so verblüfft, dass sie ihn nur mit offenem
Mund anstarren konnte.
»Was machst du denn hier?«
»Was zur Hölle glaubst du, was ich mache? Ich suche dich. Los, steig ein, verdammt nochmal!« Er stieß die Beifahrertür auf. Sie hatte kaum eine andere Wahl, als seiner Aufforderung zu folgen. Sie warf ihren Beutel auf den Rücksitz und glitt auf den Sitz neben ihrem Halbbruder. Er setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehr ein.
»Irene hat gesagt, du wärst im Haus gewesen, hättest deine Sachen gepackt und wärst verschwunden«, berichtete Luke und blickte achtsam in den Rückspiegel, wo ein großer TIRLastzug ausgeschert war, um ihn zu überholen.
»Warum ist dieses verdammte Ding nicht auf der Autobahn? Und warum hast du mir nicht gesagt, dass du vorhast zu verschwinden?« Der schwere Lastzug donnerte vorbei. Kate glaubte ihn wiederzuerkennen, es war einer der Züge, deren Fahrer sie abgewiesen hatten, hinten auf dem Parkplatz. Sie fragte sich, ob der Fahrer gesehen hatte, wie sie in den Privatwagen eingestiegen war, und falls ja, was er sich wohl dachte. Wahrscheinlich, dass Luke sich einen Haufen Scherereien eingehandelt hatte.
»Wahrscheinlich hat er irgendwo Fracht abgeliefert oder aufgenommen«, sagte sie in Beantwortung seiner ersten Frage, um dann hinzuzufügen:
»Hätte es dich denn interessiert?« Ja, dachte sie, wahrscheinlich hat es ihn tatsächlich interessiert, damit er mir noch die eine oder andere Verwünschung mit auf den Weg geben kann. Er hatte von Anfang an gewollt, dass sie verschwand. War er ihr etwa auf dieser Straße gefolgt, weil er entschlossen war, sich nicht um die Chance bringen zu lassen, ihr zu sagen, was er zu sagen hatte? Vielleicht schuldete sie ihm wenigstens so viel.
»Ich musste erst herausfinden, wohin du wolltest!« Er klang mehr enttäuscht als ärgerlich.
»Ich nahm an, wahrscheinlich London. Ich bin zuerst zum Bahnhof gefahren, aber der Mann hinter dem Schalter erinnerte sich an niemanden, auf den deine Beschreibung gepasst hätte. Dann dachte ich, dass du vielleicht versuchst, wieder per Anhalter zu fahren. Warum machst du das?«
»Warum mache ich was?«
»Per Anhalter fahren, trampen? Hast du denn kein Geld?«
»Nicht viel. Außerdem – es ist nicht das Geld. Es ist … du würdest es nicht verstehen.« Es war ein Spiel. Kate gegen den Rest der Welt. Es ging darum, die anderen dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollte. Sie hatte dieses Spiel ihr ganzes Leben lang gespielt. Nicht, weil sie es so gewollt hätte, sondern aus Notwendigkeit, wie sie sich immer wieder sagte. Das Spiel hieß Überleben.
»Willst du nach London?«
»Ja.«
»Dann fahre ich dich.« Sie sah ihn überrascht an.
»Was denn, die ganze Strecke?«
»Warum denn nicht?«, entgegnete er.
»Ich brauche dich nicht«, sagte sie ganz langsam.
»Ich brau che niemanden.«
»Red keinen Blödsinn«, lautete die unverblümte Antwort.
»Es ist spät. Wir können auch nach Bamford zurückfahren, wenn dir das lieber ist.« Mit einem Funken ihrer alten Aufsässigkeit fauchte sie:
»Es ist mir nicht lieber! Ich habe keine Lust, jemals wieder meinen Fuß in diesen Misthaufen von einem Kaff zu setzen!«
»Ich kann es dir nicht mal verdenken. Im Gegenteil, mir geht es inzwischen auch nicht mehr viel anders«, murmelte Luke. Diese Worte aus seinem Mund schockten sie.
»So solltest du nicht reden. Es ist dein Zuhause«, protestierte sie.
»Das dachte ich auch.« Seine Stimme klang wild.
»Aber jetzt weiß ich es nicht mehr! Ich weiß überhaupt nichts mehr! Alles geht drunter und drüber, alles ist durcheinander, und ich weiß nicht, was ich denken soll! Nichts ist so, wie ich dachte, dass es wäre! Ich dachte, ich wäre ein Einzelkind, aber ich war es nicht, bin es nicht. Ich dachte, ich würde meinen Vater kennen, aber ich kannte ihn nicht. Ich dachte, ich würde meine Mutter sogar noch besser kennen …« Er brach ab und biss sich auf die Lippe. Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Es wurde nun rasch dunkel. Sämtliche Wagen fuhren bereits mit Licht. Sie hatte tatsächlich Glück gehabt, dass Luke ihr hinterhergekommen war. Wahrscheinlich verkehrte auf dieser Strecke überhaupt kein Bus. Möglicherweise hätte sie in einer Hecke schlafen müssen. Vermutlich hätte sie Luke dankbar sein sollen, und vermutlich hätte sie es ihm sagen sollen, doch sie fand nicht die richtigen Worte. Dankbarkeit, Danke, das waren Dinge, die ihr nur mühsam über die Lippen kamen. Luke suchte ebenfalls nach Worten.
»Mum ist … Mum ist an einem Ort, wo man sich um sie kümmert.« Als sie nicht antwortete, warf er einen raschen Blick zur Seite und bemerkte, dass sie den Kopf leicht neigte.
»Sie wollte nicht … sie ist krank. Sie hätte es bestimmt nicht getan, wenn sie nicht krank gewesen wäre. Sie hätte nicht versucht, dich umzubringen, und sie hätte Dad nicht erschlagen. Sie ist zusammengebrochen. Sie hat Dad angebetet. Es war der Schock.«
»Warum sagst du nicht einfach, dass alles meine Schuld ist?«, fragte Kate.
»Ich bin schuld, dass sie es getan hat. Wäre ich nicht nach Tudor Lodge gekommen, wäre unser Vater noch am Leben.« Sie sah ihn von der Seite her an und fragte herausfordernd:
»Meinst du nicht auch? Ganz ehrlich, glaubst du nicht, dass es so ist? Lüg jetzt nicht.«
»Ich würde nicht lügen. Zuerst dachte ich, es wäre so. Aber jetzt weiß ich, dass es nicht so einfach ist. Mum hat von ihm und deiner Mutter gewusst, seit Jahren schon. Sie hielt es vor mir und allen anderen geheim. Es muss an ihr gefressen haben. Ich hatte nie auch nur den leisesten Verdacht. Aber sie hat es gewusst. Sie hat es nicht erst herausgefunden, als du aufgetaucht bist. Sie hat es schon die ganze Zeit über gewusst, und früher oder später wäre sie daran zerbrochen. Ich schätze, es war Dads Schuld, wenn überhaupt irgendjemand schuld war. Er war selbstsüchtig und sorglos und dumm. Aber ich weiß, dass er es nicht böse gemeint hat. Er war kein grausamer Mann, sondern schwach, schätze ich. Er hat sich gedacht, dass er beides haben könnte. Er wollte ihr nicht wehtun. Er wollte niemandem wehtun.«
»Meine Mutter hatte Krebs«, hörte Kate sich sagen.
»Es hat sie von innen her aufgefressen. Vielleicht hatte deine Mutter eine Art seelischen Krebs. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, wenn ich alles noch schlimmer gemacht habe.«
»Es ist weder deine noch meine Schuld. Keiner von uns ist dafür verantwortlich. Sie haben nicht an uns gedacht, als sie damit angefangen haben. Was ich meine, ich habe versucht, darüber nachzudenken. Ich war gerade damit fertig und wollte mit dir darüber reden, als ich nach Hause kam und feststellen musste, dass du deine Sachen gepackt hattest und verschwunden warst. Also musste ich dich suchen, weil ich es sagen muss und weil es nicht warten kann. Wir haben unsere Eltern nicht gebeten, diesen Mist anzustellen. Du bist meine Schwester. Ich hätte gerne, dass wir Freunde sind. Oder wenigstens keine Feinde.« Seine Stimme klang beinahe ängstlich.
»Wir sind keine Feinde.« Kate schnitt im Halbdunkel eine Grimasse.
»Du bist genau genommen die einzige Person in dieser ganzen Geschichte, die keinerlei Schuld trägt. Du hast überhaupt nichts getan.«
»Also vergessen wir alles, was bisher passiert ist, und fangen ganz von vorne an, einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete sie zögernd.
»Wir können es versuchen. Allerdings komme ich nicht wieder nach Bamford, nie wieder. Du kannst mich gerne in London besuchen, wenn du magst.«
»Wirst du deinen Abschluss am College machen? Ich denke, das solltest du.«
»Vermutlich sollte ich das, ja. Und du? Machst du deinen?« Er seufzte.
»Vermutlich, ja. Allerdings habe ich im Augenblick ein wenig das Interesse verloren. Ist die Polizei mit den Fragen an dich fertig?«
»Ich denke schon. Man hat mir gesagt, ich könnte nach Hause fahren. Ich wäre sowieso gefahren. Abgesehen von allem anderen ist da dieser Sergeant. Ich musste mich aus dieser Geschichte herauswinden.«
»Hey, was hat er denn gemacht?«, rief Luke aufgebracht.
»Nichts. Hör mal, ich habe nichts dagegen, dich als Bruder zu haben, aber ich brauche keinen Beschützer. Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Ich bin daran gewöhnt. Der Sergeant war eigentlich ganz süß, aber nicht mein Typ. Ich brauche ihn jetzt nicht mehr. Ich dachte, vielleicht könnte ich ihn brauchen, aber ich brauche ihn nicht.« Steif fügte sie hinzu:
»Ich bin übrigens nicht gerade ein netter Mensch.« Und einen Augenblick später sagte sie noch:
»Es wird spät, bevor wir London erreichen. Du kannst bei mir pennen, wenn du willst. Ich hab ein Sofa.« Sie grinste.
»Ich werde der Vermieterin sagen, dass du mein Bruder bist, aber sie wird mir kein Wort glauben.«
Die Lichter brannten im Bezirkspräsidium. Die Leuchtstoffröhren flackerten und warfen ihr erbarmungslos kaltes Licht auf verlassene Schreibtische, volle Papierkörbe, Berge unerledigter Akten, leere Bildschirme und, weil Technik Geld kostet, die manuellen Schreibmaschinen, die immer noch zum Bild der Büros gehörten. Die Nachtschicht würde gleich anfangen, und draußen auf den Gängen hänselten sich die Männer oder jammerten, je nach den Umständen. Ihre Schritte trampelten über die gefliesten Böden. Sergeant Prescott packte seine Sachen für den Feierabend zusammen. Er hatte seinen Schreibtisch so weit wie möglich geräumt und den Rest für seine Ablösung zurückgelassen. Er fegte einen Haufen leerer Plastik-Sandwichbehälter, Süßigkeitenpapierchen und Styroporbecher in den Papierkorb, streckte sich und stand schwerfällig auf. Gähnend griff er nach seinem Mantel. Ausgerechnet in diesem Augenblick musste das Telefon klingeln.
Er warf einen wütenden Blick auf das beleidigende Instrument und kämpfte einen kurzen Kampf mit seinem Gewissen. Es war ein langer Tag gewesen, und er hatte die Nase voll. Das Telefon schrillte erneut. Prescott seufzte und nahm ab.
»Prescott.«
»Sind Sie das, Sergeant?« Es war eine unbekannte, unsichere männliche Stimme.
»Sind Sie das?«, wiederholte sie ihre Frage, dann räusperte sie sich laut.
»Ich möchte mit Sergeant Prescott sprechen.«
»Am Apparat«, antwortete Prescott, während er sich den Hörer unter das Kinn klemmte und sich in die Ärmel seines Mantels zwängte.
»Mein Name ist Evans, Eddie Evans, Sergeant. Ich bin Fernfahrer. Meine Frau sagt, Sie wollten mich wegen dieses Mädchens sprechen. Nicht, dass ich Ihnen was sagen könnte. Tut mir Leid, dass ich sie überhaupt mitgenommen habe. Hätte ich nie getan, wenn ich gewusst hätte, was sie für Scherereien verursachen würde. Na ja, nicht mir, aber den anderen, Sie wissen schon. Die Sache ist, ich bin eben erst aus der Türkei zurückgekommen. Auf dem Rückweg hab ich in diesem griechischen Bauernkrieg festgesteckt. Deswegen hab ich mich nicht früher melden können. Jedenfalls, jetzt bin ich wieder da. Wie kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie, dass ich zu Ihnen komme?«
Prescott nahm den Hörer unter dem Kinn hervor und stand für einen Augenblick schweigend da. Aus dem Hörer quäkte die fragende Stimme.
»Danke sehr, Mr Evans«, unterbrach Prescott schließlich.
»Es ist gut, dass Sie sich doch noch gemeldet haben, aber wir haben keine Fragen mehr. Wir brauchen Ihre Aussage nicht. Dieser Fall ist abgeschlossen.«
Er legte den Hörer sanft auf die Gabel zurück.